"Wir Internet-Aktivisten müssen dranbleiben": Interview mit "Tunisian Girl" Ben Mhenni

von Jan Stöpel

Das Internet habe die Regimes in Tunesien und Ägypten zu Fall gebracht, heißt es allenthalben. Differenzierter sieht die "Facebook-Revolution" eine Araberin, die es wissen muss: Lina Ben Mhenni (27), die mit ihrem Blog "A Tunisian Girl" eine wichtige Rolle beim Kampf gegen das Regime in Tunesien spielte. In einem Büchlein mit dem Titel "Vernetzt Euch!" (Ullstein, 3,99 Euro) fordert sie die Menschen zum Gebrauch der neuen Medien und zum Engagement auf.  Ihr Fazit: Internet ist ein wichtiges Werkzeug - aber eben nur ein Werkzeug. Der Kulturvollzug hat mit ihr gesprochen.

Herzlichen Glückwunsch zum Blog-Preis, den Ihnen die Deutsche Welle kürzlich verliehen hat.

Lina Ben Mhenni: Danke.

Wie ist die Situation in Tunesien heute?

Ziemlich unklar. Die Wahlen wurden verschoben, weil neue Politiker auftreten, neue Parteien... Das muss sich noch finden. Die jungen Leute jedenfalls sind nicht zufrieden mit der Situation, weil die alten Seilschaften immer noch funktionieren, weil immer noch Kumpane Ben Alis versuchen, die Zügel in die Hand zu nehmen. Auch die Presse wird weiterhin manipuliert. Es gab schon wieder Unruhen, und die Polizei hat verschiedene Male schon wieder Gewalt angewandt.

Hört sich an, als wäre die Revolution noch nicht abgeschlossen...

Nein, das ist sie auch nicht. Wir müssen dranbleiben, auch wir Internetaktivisten.

Über welche Themen schreiben Sie in Ihrem Blog?

Ich habe über die Zensur geschrieben, über Menschenrechte, über die Demonstrationen, die Gewalt der Polizei. Ich schreibe über all die Themen, die in den sonstigen traditionellen Medien in Tunesien nicht mehr vorkommen.

In ihrem Büchlein schreiben Sie dem Internet eine entscheidende Rolle zu...

Nein, das habe ich nicht. Ich habe von einer wichtigen Rolle geschrieben. Das Internet war nur ein Faktor unter mehreren.

Könnten Sie diese Rolle näher beschreiben?

Wir haben über das Internet kommuniziert und uns koordiniert. Es hat die Leute zusammengebracht, die dann später auf die Straße gegangen sind. Und es hat uns die Möglichkeit an die Hand gegeben, Informationen darüber zu streuen, was wirklich im Land ablief. Es war ein Auslöser für die Revolution.

Welche Mittel hat das Regime Ben Alis angewandt, um Sie und Ihre Freunde zu stoppen?

Zunächstmal ganz klassische Zensur. Wenn man bestimmte Seiten aufrief, kam die Fehlermeldung „404 not found“. Das Regime hat auch Seiten gehijackt. Es hat wachsenden Druck auf die Internetaktivisten ausgeübt, es gab Verhaftungen. Zwei meiner Mitstreiter wurden im Mai 2010 festgenommen, zum Glück aber kurze Zeit später wieder freigelassen.

Hatten Sie und Ihre Familie Probleme mit der Polizei und Spitzeln?

Ja, die Polizei hat mich zwei Jahre lang beschattet. Sie sind auch in das Haus meiner Eltern eingebrochen, sie haben meinen Laptop gestohlen und meine Kameras.

Hatten Sie Angst um Ihr Leben?

Das kann man wohl sagen, ja. Wir wurden die ganze Zeit beschattet, und die Polizei tötete überall Menschen. Du wusstest nie, was passieren würde.

Über traditionelle politische Arbeit äußern Sie sich in Ihrem Buch ziemlich skeptisch. Glauben Sie wirklich, dass man ein Land ohne Parteien und Politiker regieren kann?

Nein, das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe lediglich geschrieben, dass ich kein Politiker werden und mich auch keiner Partei anschließen möchte. Ich möchte ein freies Elektron bleiben, eine Aktivistin im Internet. Ich glaube auch, dass unsere Politiker ihre Lektion nicht gelernt haben. Wie Politik in Tunesien abläuft, das ist noch immer ungenügend. Wir brauchen effiziente Strukturen und Institutionen in Tunesien, aber da muss sich noch eine Menge verbessern.

Wird das Internet irgendwann die herkömmliche Politik ersetzen?

Nein, das glaube ich nicht. Es ist ein nützliches Werkzeug, wird aber die Politik nicht ersetzen, sondern eher ergänzen. Internet kann Menschen mobilisieren, und wie das in der Politik aussehen kann, haben wir beispielhaft beim Wahlkampf von Barack Obama gesehen. Auch wir haben Menschen über das Internet mobilisiert.

Werden Internet und soziale Netzwerke überschätzt?

Ja, vielleicht schon. Wir hätten die Revolution in Tunesien nicht ohne Internet starten können. Aber als Auslöser war das Internet auch nur ein Faktor von mehreren Faktoren. Mit dem Internet alleine hätten wir die Revolution in Tunesien nicht zu Ende bringen können.

Eine andere Situation haben wir in Syrien. Auch dort gibt es schwere Unruhen, aber dort haben Polizei und Sicherheitskräfte offenbar volle Kontrolle über das Internet.

Das war auch bei uns so. Doch wir hatten auch Unterstützung, durch ausländische Medien oder auch durch die Gruppe Anonymus, die wiederum Regierungsseiten geknackt haben. Aus Syrien kommen schon Berichte, aber sie reichen bei weitem nicht aus, um sich ein Bild machen zu können. Die haben diese Hilfe nicht. Und das Internet kann es eben nicht richten, wenn die anderen Faktoren fehlen.

Wie kann man den Menschen in Syrien helfen, wenn man im Libanon, in Tunesien oder meinetwegen auch in Deutschland sitzt?

Indem man darüber spricht, die Informationen verbreitet und mit möglichst vielen Menschen teilt. Information ist das wichtigste. So baut man international Druck auf. Und internationaler Druck ist in dieser Lage entscheidend.

Wird das Internet auch in Ländern wie Iran und China den Wandel befördern?

Ich glaube schon. Aber das hängt auch stark davon ab, über welche technischen Fähigkeiten die Menschen dort verfügen und wie gut sie sich vernetzt und organisiert haben. Das ist in China, beispielsweise, noch nicht so weit gediehen. Aber wenn die Menschen erstmal so weit sind, dann treibt das Internet den Wandel voran.

http://atunisiangirl.blogspot.com/

Veröffentlicht am: 18.06.2011

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