„Unsere Zukunft war tot“ – Ingrid Betancourts Leben in den Lagern der Farc

von Florian Haamann

Eigentlich wollte Ingrid Betancourt an jenem 23. Februar 2002 einfach nur Wahlkampf machen. Mit ihrem Auftritt in San Vincente sollte sie ein Zeichen für die Region setzen. Immerhin hatte die Regierung gerade erst versucht, die Farc Rebellen von dort zu vertreiben; die Sicherheitslage aber war noch keineswegs stabil. Gleichzeitig mit Betancourt, der Präsidentschaftskandidatin, besuchte auch der amtierende Präsident Andrés Pastrana die Region. Er in einer gepanzerten Eskorte. Sie in einem offenen Jeep – weil sie am Flughafen vom Militär erfahren hat, dass die versprochenen gesicherten Fahrzeuge „von Oben“ gestrichen wurden. Der Jeep machte sie zum leichten Ziel für die wenige Kilometer entfernte Straßensperre der Farc. Dort begann Betancourts 76 Monate langer Alptraum.

Ihre Erinnerungen an die Zeit in den Händen der Farc sind jetzt erschienen, zwei Jahre nach ihrer Befreiung.

„Kein Schweigen, das nicht endet“ ist aber kein nüchterner Bericht, keine Bilanz, sondern eher ein Abenteuerroman. „Ich zählte langsam bis drei, dann lief ich los, direkt hinein in den Urwald. Ich rannte blindlings drauflos, von wilder Panik getrieben, wich instinktiv den Bäumen aus uns peitschte mich vorwärts bis ich nicht mehr konnte.“ Mit diesen Worten beginnt Betancourts dritter Fluchtversuch – das Ergebnis ist aber nicht die Freiheit, sondern eine erneute Verschärfung ihrer Haftbedingungen. Viel erzählt Betancourt ihren Lesern über die Farc, deren Lager und Strategien. Besonders wichtig scheinen ihr aber die Berichte über die Menschen in ihren Tarnanzügen zu sein, mit denen sie Tag für Tag um ihre Existenz kämpfen muss. Trotz einer unüberwindbaren Distanz zwischen ihnen, gibt es immer wieder Momente der Nähe zu ihren Entführern. Etwa wenn sie von einem Guerillero das Weben lernt, oder wenn sie einen der wenigen ausgelassenen Abende im Camp beobachtet: „Für einige Stunden wandelten sich die jungen Rebellen wie von Zauberhand in andere Wesen. Sie waren keine Wachen, keine Terroristen, keine Mörder mehr. Sie waren junge Menschen im Alter meiner Tochter, die sich amüsierten.“

Aber Ingrid Betancourt beschäftigt sich nicht nur mit der Gegenseite. Vor allem ist „Kein Schweigen, das nicht endet“ eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. Anfangs noch fest von einer schnellen Befreiung oder Flucht überzeugt, fügt sie sich Stück für Stück in ihr Schicksal als Gefangene. Natürlich bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als sich den Umständen anzupassen. Trotzdem behauptet sie ihre Individualität und findet durch ihre Gefangenschaft zu sich selbst.

Auch ihren Weg zu Gott findet sie im kolumbianischen Unterholz. „Gott hatte zweifellos recht, und der Heilige Geist wusste das, denn er weigerte sich beharrlich, sich für meine Freilassung zu verwenden. Ich hatte noch viel zu lernen.“

Das alles ist nicht neu oder besonders originell und manchmal von Pathos überzogen. Aber es wirkt authentisch, und als Leser kann man Betancourts emotionale Aufgeladenheit nachvollziehen; in seinen besten Momenten zwingt das Buch den Leser sogar dazu sich mit sich selbst zu beschäftigen, Stellung zu beziehen.

„Kein Schweigen, das nicht endet“ ist die persönliche Auseinandersetzung mit einer Geschichte, die wir alle kennen. Bisher allerdings nur aus der Vogelperspektive, als Zeitungsleser, Radiohörer oder Fernsehkonsument. Der Versuch, den Leser mit auf die andere Seite zu nehmen, macht Betancourts Buch zu einem wichtigen Dokument der Zeitgeschichte.

„Kein Schweigen, das nicht endet“ (736 S.) ist bei Droemer erschienen und kostet 22,99€.

Veröffentlicht am: 04.10.2010

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