Kurzgeschichte

Die Wand

von Gabriele Müller

Sie trägt unten Gold, er sucht den Revolver, Tante Jasmin liegt im Abseits und Tom Waits singt den Blues – hundertdreizehn Schubladen für die Szenen einer Ehe.

„Wo ist der Schmuck?“, fragte sie.

„Das weiß ich nicht“, sagte er. „Ich such den Revolver.“

Sie sah ihn spöttisch an. Und dieser Spott war ihm sehr vertraut.

Was bleibt, ist der Bikini (Illustration: Andreas Wiedemann)

 

Die Schrankwand hatte 113 nummerierte Schubladen, in denen sein Vater einst Schrauben, Nägel und anderes gelagert hatte. Sie war eine Maßanfertigung. In die Mauer hineingepasst. Jede Schublade hatte einen schweren Klappdeckel. Der Vater war Schmied gewesen und hatte unten im Haus seine Eisenwarenhandlung und die Werkstatt gehabt. Die Schrankwand hatte er aus dicken Bohlen selbst gezimmert. Die Schubladen dienten gleichzeitig auch als Stufen. Wenn die Mutter den Vater seinerzeit zum Essen rief, brüllte der manchmal, dass es jetzt nicht ginge, er stünde gerade auf der 58. Einmal war sie deswegen so erbost gewesen, dass sie die Schubladen unter ihm mit Besenstielen zugeschoben und ihn in luftiger Höhe hatte schmoren lassen.

Das Haus hatten sie nach dem Tod der Eltern übernommen und renoviert. Jahrelang. Jahrelang hatten sie nichts anderes getan, als alte Zeiten zu renovieren, pflegte seine Frau zu sagen.

Sie trug schwarze Lackschuhe mit goldenen Absätzen, stand ein paar Schubladen über ihm. Er saß in der zweiten Reihe auf der 15. Sein Gesicht spiegelte sich verzerrt in ihren Absätzen.

„Du hast schon lange nicht mehr so schöne Schuhe angehabt.“

„Lackschuhe auf dem Land?“, fragte sie. „Du bist gut.“

„Aber jetzt schon“, sagte er. „Jetzt trägst du sie, obwohl wir immer noch auf dem Land sind.“

„Jetzt geh ich ja zurück in die Stadt“, antwortete sie.

„Es ist das Ganze, was zählt“, hatte er ihr gesagt, als sie ihn gefragt hatte, warum sie eigentlich noch verheiratet waren. Die Familie und alles andere eben. Das Gesamtpaket.

„Das Gesamtpaket kannst du allein haben“, hatte sie geantwortet. „Das schenk ich dir.“

„Ja was willst du denn hören? Willst du eine Liebeserklärung?“

„Ganz bestimmt nicht. Ich wollte nur wissen, warum du mit mir verheiratet bist“, hatte sie gesagt. „Und ich wollte, dass du mit mir zusammen bist, und zwar wegen mir.“

Dann hatte sie ihre Koffer gepackt. Das Gesamtpaket war ihr zu wenig.

Und jetzt suchte sie ihren Schmuck und er den Revolver.

Er hob den Deckel von der 16 hoch und entdeckte bemalte Figuren aus Vietnam. „Du hast immer gern Krimskrams gekauft. Überflüssiges Zeugs, das jetzt hier in den Schubladen den Platz wegnimmt.“

„Natürlich, wenn es von mir kommt, muss es ja Platz wegnehmen.“

Seine Frau stieg hoch auf die 63 und zog die Schubladen in der obersten Reihe auf.

„Hier oben sind noch zwei leer, stell dir vor. Da hätte ich ja noch mehr Ramsch einkaufen können.“

„Den du jetzt hier lässt. Danke.“

„Kein Ding“, sagte sie.

„Kein Ding? Wie redest du denn?“, fragte er sie.

„So wie eine Frau redet, die über den Dingen steht“, antwortete sie und blickte auf ihn herab.

Sprachlich gesehen fühlte er sich ihr gelegentlich unterlegen.

„Da schau, was ich gefunden habe“, er wedelte mit einem Impfschein.

„Den hab ich jahrelang gesucht“, sagte sie. „Wo war der?“

„Da, wo er nicht hingehört. Wenn du ein bisschen System hättest, dann ...“

„Du hast ja bald die Wand für dich allein, dann kannst du vierundzwanzig Stunden am Tag systematisch sein.“

Er warf den Impfschein achtlos auf den Boden.

Sie hielt eine verpackte Schachtel Golfbälle aus der 74 hoch. „Die hab ich dir geschenkt. Warum hast du die nie benutzt?“, fragte sie.

„Es sind nicht die richtigen.“

„Falsche Bälle, falsche Frau, falsches Leben.“

„Musst du immer gleich so theatralisch werden?“, fragte er.

Sie legte die Golfbälle in die Schublade zurück, ließ den Deckel herunterknallen und schob sie wieder zu.

In der 21 lagen Faschingsgirlanden, Luftschlangen, Lametta und Wunderkerzen. „Wir haben schöne Feste hier gefeiert“, sagte er und pustete eine Luftschlange auf.

„Wir haben hier kein einziges Fest gefeiert, du hattest immer Angst, um den Parkettboden, die neuen Sofas. Hier draußen hat uns kein Schwein besucht. Weil wir niemanden einladen durften. ,Erst wenn alles perfekt ist‘, hast du immer gesagt. Aber es wurde eben nie perfekt. Und um das Unvollkommene hattest du panische Angst.“

„Bin ich wirklich so schlimm?“, fragte er.

„Was glaubst du?“, fragte sie.

Er legte die Luftschlangen um seinen Hals.

„Da schau an: eine Autogrammkarte von Romy Schneider“, sie saß auf der 87, ihre Beine übereinander geschlagen. „Die solltest du dir einrahmen lassen. Die war immer der Inbegriff der Verführung für dich.“

„Hab ich das gesagt?“

„Ich finde schon“, sagte sie.

„Eigentlich warst du immer meine Lieblingsfrau.“

Sie sah ihn an, zog die Augenbraue hoch.

„Hast du mich jemals betrogen?“, fragte er.

„Du nicht?“

„Hat es was bedeutet?“

„Nein. Aber es war wichtig“, sagte sie.

In der 113 fand sie alte Bikinis. „Da würde ich heute nicht mehr reinpassen.“

Die Schublade, auf der sie stand, knarzte.

„Hält die mich aus?“, fragte sie.

„Das wirst du dann schon merken“, sagte er.

„Ich weiß, dass du mich zu dick findest.“

„Du fragst mich ständig, ob du zu dick bist. Du fragst, also wundere dich nicht, wenn du eine Antwort bekommst. Aber wenn du stürzt, werde ich dich pflegen. In guten wie in schlechten Tagen.“

„Ich werde hier ganz bestimmt nicht alt“, antwortete sie und öffnete eine Schachtel. Pastellkreiden. Die hatte er ihr geschenkt, damit ihr die Decke nicht auf den Kopf fiel, als die Kinder anfingen, ihre eigenen Wege zu gehen. Sie war ihr trotzdem auf den Kopf gefallen. Trotz der Pastellkreiden. Jetzt malte sie ein Gesicht auf den Deckel der Schublade und lächelte über ihr Kunstwerk.

Er blätterte in den Briefen, die sie ihm geschrieben hatte. „Wo sind eigentlich die Briefe, die ich dir geschickt habe?“, fragte er.

„Die hab ich nicht mehr“, wollte sie sagen. „Die sind schon in meiner neuen Wohnung“, log sie.

Er hob den Deckel von der 28 hoch: „Da schau mal, kannst du dich noch erinnern?“

Sie hielt sich mit einer Hand an der halb geöffneten 96 fest und bückte sich schräg nach unten. In der 28 lag eine große Muschel, die wie eine Vagina aussah.

Sie grinsten beide. „Weißt du noch, als Onkel Franz sagte, dass die aussieht wie Tante Jasmin untenrum. Und dann haben wir die Muschel sofort ausgelagert“, sagte sie.

„Das ist das erste Mal, dass du wir sagst.“

„Du hast sie ausgelagert“, korrigierte sie sich.

Er sah hoch zu seiner Frau.

„Meine Mutter hat mich einmal beim Onanieren in der Badewanne erwischt“, sagte sie. „Mit dem Duschstrahl. Alles, was sie sagte, war: ,Kein Wunder, dass unsere Wasserrechnung immer so hoch ist.‘“

Er lachte.

„Es war sehr peinlich.“

„Meine Mutter hat einmal mit meinem Vater geredet, und ich hab heimlich zugehört. ,Er berührt sich im Bett‘, hat sie zu ihm gesagt. ,Jeden Tag ist die Bettwäsche befleckt. Du musst mit ihm reden. Ich kann doch nicht jeden Tag die Betten neu beziehen.‘ – ,Lass ihn doch in seinem eigenen Saft schmoren‘, hat mein Vater geantwortet.“

Sie lachte.

„Willst du sie haben, die Muschel?“

Sie schüttelte den Kopf.

In der obersten Reihe ließen sich die Schubladen nur schwer öffnen. „Da musst du mal was machen, Seife oder Schmiere“, sagte sie und zog aus der 109 einen Stapel Einkaufstaschen aus Stoff heraus. „Die hast du mir früher immer mitgebracht.“

„Teure Taschen konnte ich mir damals nicht leisten. Aber Frauen mögen doch Taschen.“

„Ich hab mich immer sehr darüber gefreut. Mehr als über die teuren Geschenke später.“

„Warum vergammeln sie dann da oben in der Schublade?“

„Weil diese Zeit eben vorbei ist. Früher waren deine Geschenke einfach. Früher, als wir in der Stadt wohnten, war alles einfacher.“

„Früher hast du uns Kartoffeln mit Butter gemacht“, sagte er, „und irgendwann gab es Kartoffeln mit Trüffel.“

„Das war Frustkochen.“

„Kannst du dich erinnern, als dein Sohn zu dir gesagt hat, ob wir vielleicht ausnahmsweise einfach nur ein Butterbrot zu Abend essen könnten?“

„Mein Sohn?“

„Unser Sohn.“

Er stellte sich hin, sah die Wand hoch zu ihr. „Ich hab es für euch getan.“

„Was – das Haus renovieren?“, fragte sie.

„Ja.“

„Du hast uns aber nicht gefragt. Wir mussten hier rausziehen, weil du es bestimmt hattest.“

„Weil ich mir euch in der Stadt nicht mehr leisten konnte“, sagte er. „Sie haben mir gekündigt damals.“

„Warum hast du mir das nie gesagt?“

„Du hattest deine Ansprüche: Essen nie aus dem Supermarkt, alles Bio, schöne Reisen, hübsch mit den Freundinnen um die Häuser ziehen. Ich dachte, es wäre das Richtige: ein Haus mit Garten.“

„Es war der Anfang vom Ende. Dein Vater hat vor seinem Tod noch gesagt, dass du das Haus später verkaufen sollst und dir was Neues davon kaufen. Aber du musstest dieses Haus renovieren. Plötzlich gab es nichts anderes mehr, als die Vergangenheit zu bewahren.“

Er öffnete einen Flachmann aus der 13, nahm einen Schluck. „Willst du auch?“

Sie zögerte einen Moment. „Warum eigentlich nicht?“

Beim Hinaufsteigen musste er sich festhalten.

„Pass auf.“

„Was soll mir schon passieren?“, fragte er.

„Warte, ich komm herunter zu dir.“

Sie standen sich gegenüber. Er reichte ihr die Flasche.

„Komm, setz dich zu mir“, sagte er und zog die 17 und die 18 auf.

Sie setzte sich auf die 19, hob den Deckel hoch von der 18, wo CDs lagen, die sie schon lange nicht mehr hörten.

Ob sie tanzen wolle, fragte er sie, nachdem er einen zweiten Schluck genommen hatte, sie könne die Musik aussuchen. Es seien ja ihre CDs und ob sie die denn nicht mitnehmen wolle.

Sie schüttelte den Kopf.

„Nicht tanzen oder nicht mitnehmen?“, fragte er.

Sie tanzten auf „All the World is green“ von Tom Waits, Wange an Wange.

„Dein Schmuck ist übrigens in der vierten Reihe, sechste Schublade von links“, sagte er, als das Lied zu Ende war.

„Danke.“

Sie holte die Blechkiste und verstaute sie in ihrem Koffer.

„Dein Revolvergürtel liegt übrigens im Zimmer von deiner Tochter.“

„Die zieht so was an?“

„Sie hat wohl den gleichen Geschmack wie du.“

Sie küsste ihn zum Abschied auf die Wange.

„Es war schön mit dir“, sagte er.

„Das stimmt: Es war einmal schön mit uns. Sehr schön sogar.“

 

Veröffentlicht am: 08.06.2012

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