Eine Kurzgeschichte von Heiner Hendrix

Kurzer Prozess

von kulturvollzug

 

Entführte Polizisten, Erdbeereis und Franz Kafka. Auf Münchens Straßen geht es wild her.

Die alte Geschichte: Sie quatschen dich an, aber du drehst den Spieß einfach um, nimmst dem Bullen die Knarre weg. Richtest sie sofort auf ihn. Sein Kollege zuckt erst, aber macht dann doch nix. Das wär auch gegen die Vorschriften. Die Leute auf der Straße halten die Sache für nen blöden Joke. Ecke Klenze/Ickstattstraße, genau vorm Netto, am helllichten Tag. Niemand beachtet euch. Alle latschen weiter, weichen aus. Eine Oma tuckelt vorbei, rollt dem Bullen ihren Einkaufswagen über den Schuh, stoppt, lächelt ihn an. Er nickt ihr freundlich zu. Oma weiter ihres Wegs.

Ohne dass sie etwas Böses getan hätten, wurden W. und M. abgeführt. (Foto: Achim Manthey)

 

Es gibt also kein Zurück mehr. Wenn du jetzt den Revolver einfach wegwirfst, dich entschuldigst … lachen sie dich aus, machen sie dich ein. Selbst wenn du was dagegen machst, sperren sie dich in den nächsten Knast. Die nächsten vierzig Jahre. Die ganze Situation ist also relativ verzwickt. Aber immerhin scheint die Sonne. Du drückst dem Cop zwei Euro in die Hand und sagst, er soll dir ein Eis holen, sonst erschießt du seinen Kollegen Weidmann. Der Bulle spurt. Klar.

Eigentlich ist es ziemlich bekloppt, einen Bullen weglaufen zu lassen. Nur weil man ihm droht, seinen Kollegen zu erschießen, muss ja nicht … Der kann ja trotzdem – er wär ja ausm Schneider dann. Verstärkung. Helikopter. Hundertschaft. Und so weiter!

Aber da spaziert der Copo auch wieder raus ausm Netto, drei Eis in zwei Händen. Locker bei Rot über die Ampel, vorbei an der Mama mit Kinderwagen. Zwinkert dir zu, alles okay. Ob er das letzte Erdbeereis haben kann? Klar, du magst kein Erdbeereis, nickst. Nur Weidmann protestiert. Er will das Erdbeereis. Müller schluckt. Er hätte es aber geholt. „Na und!“, knurrt Weidmann, er musste dafür warten! Sei ja wohl nicht seine Schuld: der Müller. Er wäre ja nicht derjenige, der ständig irgendwelche Passanten blöd anquatschten würde. Weidmann aufbrausend. Aber du dazwischen: „Schnauze!“ Und beide blicken dich an wie zwei Hündchen. „Her mit dem Eis!“ Müller führt den Auftrag aus. Weidmann setzt sich auf die Straße und spielt beleidigt. Du nimmst ihm seine Bullenmütze weg und setzt sie dir auf. „Müller gib mir deine Knarre.“ Müller spurt. Vielleicht solltest du mit beiden Pistolen auf sie zielen, in jeder Hand eine, zur Abschreckung, am Ende kommen die auf dumme Gedanken. Aber da marschiert eine Bäckerschürze ausm Wimmer: „Was machtn ihr hier eigentlich? Habt ihr ne Drehgenehmigung? Oder was soll das werden?“ Weidmann zuckt. „Pass bloß auf Weidmann!“, rutscht dir raus, der Bäcker stutzt. Schüttelt den Kopf. „Der holt die Bullen …“, meint der Müller. „Wir müssen hier weg!“ Weidmann entsetzt. „Wo stehtn euer Wagen? Ihr habt doch nen Wagen oder?“ Weidmann nickt, die Schultern angezogen, mit Blick auf den Boden. „Na dann …?“

In der Holzstraße steht der Bullenflitzer, also pilgert ihr da hin. „Nehmt euch an die Hand, los!“ Müller greift sich Weidmanns Hand. Du hinter ihnen, mit Bullenmütze und zwei Knarren im Anschlag. Müller pfeift ein Lied. Dann am Auto, vorm Tengelmann. Eine Mutter mit Kind, irritiert. Der kleine Junge macht eine Pistole aus seiner Hand und zielt auf Weidmann. Müller lacht. Die Mutter zerrt ihren Kleinen in den Supermarkt, schüttelt den Kopf dabei. „Weidmann fährt oder?“ Weidmann wackelt mit den eingeklappten Schultern. „Meinetwegen …“

„Wollt ihr noch was aus dem Supermarkt?“ Müller holt Kinderriegel, Kippen und Bier. Weidmann lässt das Fenster runter und steckt sich eine an. Müller lehnt ab, Nichtraucher. Weidmann lacht verächtlich. „Wo solls hingehn?“ Isarauen, irgendwo Neuschornstein abwärts. Ihr braust durch die Straßen, langsam senkt sich die Sommersonne in die Häuser. Müller macht das Radio an: M94.5. „Geil MGMT!“ Müller macht lauter. Weidmann dreht zurück und zischt was von Hippiemucke. „Schnauze, Weidmann!“, brüllt Müller. Weidmann steigt auf die Bremse und Müller klebt an der Frontscheibe. „Du dummer Wixer!“, brüllt Müller, Weidmann zurück: „Was? Hä, Müller? Was is?“ Du schießt zweimal ins Dach der Bullenkarre und beide wieder still. „Alles klar, Jungs, kennt ihr Kafka?“ – „Der Typ mit den Büchern?“ Weidmann dreht sich um. „Was soll das eigentlich noch werden jetzt?“ – „Fahr weiter, Weidmann! Und Müller mach mal Polizeifunk an!“ Aber der Bullenfunk hat nichts Interessantes zu vermelden, kein Weidmann wurde vermisst, kein Müller, keine Karre.

Ihr stellt das Auto in die Fürstenfelder, eine verwachsene Seitenstraße, abseits von den paar Hütten in der Gegend. Der Horizont glüht rot, als ihr den Pfad zur Isar runtertrampelt. Müller pfeift ein Lied. Weidmann raucht die letzte Kippe. Und ohne dass sie etwas Böses getan hätten, wurden Müller und Weidmann kurz später erschossen.

(Gewidmet: Franz, 1914/15)

Heiner Hendrix

Veröffentlicht am: 16.06.2012

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