Elena Poniatowskas Roman "Frau des Windes"

Die Surrealistin Leonora Carrington und ihr Leben auf schmalem Grat

von kulturvollzug

Elena Poniatowska (Foto: Jerry Bauer)

Leonora im englischen Nebel, Leonora mit wehendem Haar in den Straßen von Paris, Leonora als Debütantin am englischen Hof, Leonora mit Max Ernst nackt am Flussufer und immer wieder: Leonora mit Pinsel und Zigarette vor der Staffelei. Es ist ein wilder Strudel von Bildern und Ereignissen, der den Leser in den ersten Kapiteln von „Frau des Windes“ erfasst. Bereits in jungen Jahren sprengt die englische Industriellentochter und spätere Surrealistin Leonora Carrington die Konventionen ihrer Zeit. Von Eltern und Lehrern verlangt sie Erklärungen anstelle von Befehlen, geschickt und lustvoll wechselt sie beim Malen und Schreiben zwischen rechter und linker Hand, statt früh zu heiraten studiert sie in London Kunst.

Ihre erste große Liebe ist der wesentlich ältere deutsche Maler Max Ernst, mit dem sie 1937 nach Paris geht. Die Surrealisten lieben die selbstbewusste und natürliche junge Frau, in ihrem Umfeld findet Leonora zum ersten Mal eine geistige Heimat. Gemeinsam mit Ernst erlebt sie später in Südfrankreich eine Phase voller Tatendrang und künstlerischer Inspiration. Als Ernst wegen seiner deutschen Abstammung in ein französisches Gefangenenlager gesteckt wird, gleichwohl er mit den Nationalsozialisten nichts am Hut hat, bricht Leonora das Herz. Die Einsamkeit treibt sie in den Wahnsinn.

Abblidung: Suhrkamp/Insel

Elena Poniatowska erzählt Carringtons Geschichte chronologisch und in kurzen klaren Sätzen. Mit literarischen Experimenten und Sprachskepsis hält sich die mexikanische Autorin, die jahrzehntelang mit Carrington in Kontakt stand, nicht auf. Zu wichtig erscheint die Geschichte, die sie zu erzählen hat. Dezent blitzen an manchen Stellen im realistischen Erzählfluss surrealistische Bilder auf. Sie vertiefen die Nähe zu Leonora, erlauben kleine Blicke ins Innere dieser Künstlerin, die Zeit ihres Lebens auf einem schmalen Grat zwischen intellektueller Selbstbestimmung, extremen Emotionen und Wahnvorstellungen balanciert.

„Sie war eine Frau, die einen verhexte“, sagt Poniatowska. Es gelingt ihr, den Leser an dieser Erfahrung fast unmittelbar teilhaben zu lassen. Nur zu gerne lässt man sich verzaubern von der faszinierenden, verletzlichen und kompromisslosen Leonora.

Nach einem traumatischen Aufenthalt in einer spanischen Nervenheilanstalt gelangt Carrington Anfang der 1940er Jahre über Lissabon und New York nach Mexiko. An der Seite ihres damaligen Mannes, des mexikanischen Dichters und Diplomaten Renato Leduc, fühlt sie sich dort jedoch immer einsamer. Erst der Kontakt zu anderen europäischen Künstlern, die der Zweite Weltkrieg aus der Heimat vertrieben hat, füllt ihre innere Leere.

Leonora heiratet den ungarischen Fotografen Emérico Weisz, bekommt zwei Söhne mit ihm und malt weiter wie eine Besessene. Momente der Erfüllung wechseln sich ab mit tiefen Krisen. Sie ist und bleibt eine Suchende.

Carrington überlebt all ihre Freunde und stirbt 2011 im Alter von 94 Jahren als allseits geachtete und vielfach geehrte Künstlerin.

Die Journalistin und Schriftstellerin Poniatowska, von der auf Deutsch unter anderem „Tinissima“ und „Lieber Diego“ erschienen sind, hat Carrington seit den 1950er Jahren immer wieder besucht und interviewt. Sie hat mit unzähligen Freunden und Bekannten gesprochen sowie Carringtons eigene Erzählungen und Texte anderer Autoren als Quellen für „Frau des Windes“ genutzt. Entstanden ist ein ungemein intensiver biografischer Roman – ein Stück lebendige Zeitgeschichte und gleichzeitig eine leidenschaftliche Abhandlung darüber, was im Leben wichtig ist.

Katrin Kaiser

Suhrkamp, 495 Seiten, 24,95 Euro

Veröffentlicht am: 02.08.2012

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