Eine Kurzgeschichte von Herbert W. Franke

Verwandlung

von kulturvollzug

Die Fliege kommt nicht als Fliege zur Welt und der Frosch nicht als Frosch. Die Metamorphose im Tierreich ist die Regel, nicht die Ausnahme. Es gibt aber Tiere, die über den ersten Erscheinungstyp, die Larve, nicht hinauskommen. Die Umwelt, ihre klimatischen oder chemischen Einflüsse, ist schuld, wenn sie ihre Entwicklung nicht vollenden.

"Kontrolletti" aus dem multimedialen Marionettenspiel "Der Kristallplanet". Foto: Archiv HWF

Von Herbert W. Franke

Es wunderte mich, dass mir Mac nicht entgegenkam. Er musste doch die Stoppstöße meiner Rakete gehört haben.

Ich ging durch den Sand auf die Station zu. Das Raupenfahrzeug stand vor dem Lagerschuppen, eine dicke Staubschicht auf den Scheiben. Das war gar nicht die Art Macs. Hoffentlich war er nicht krank! Ich hätte ihn vor 14 Tagen wohl nicht allein vorausschicken sollen.

In der Glaskuppel des Beobachtungsstandes war niemand. Ich wandte mich zum Wohnblock. Die Tür stand offen, der Flügel schwenkte im Wind hin und her.

Als ich eintrat, flatterte mir ein Tier entgegen. Ich schoss sofort – gemäß den ungeschriebenen Gesetzen der Weltraumfahrt. Es fiel zu Boden: ein 60 cm langer Körper, halb Heuschrecke, halb Fledermaus, mit kurzen bunten Federchen überzogen.

Ich ging weiter. Macs Räume lagen da, als hätte er sie eben verlassen. Ein Becher Kakao stand auf dem Tisch, auf dem Nachtkästchen lagen Pfeife und Feuerzeug. Das Bett war zerwühlt, ein Bündel Kleider – darunter seltsamerweise sein Arbeitszeug – lag darauf. Darüber gestreut bemerkte ich Fetzen eines hautartigen Gewebes, deren Herkunft ich mir nicht erklären konnte.

In meinem Zimmer standen einige Gläser mit Spiritus, in denen Insekten schwammen. Mac musste sie mir zum Untersuchen hergerichtet haben. Von ihm selbst keine Spur.

Ich machte mich daran, das Haus aufzuräumen, ich wusch den Wagen und setzte den Peilsender in Betrieb. Am Abend zog ich dem Tier, das noch an der Türschwelle lag, den Balg ab, stopfte es aus und stellte es in den Gemeinschaftsraum.Am nächsten Tag suchte ich wieder nach Mac. Nichts. Ich war sehr niedergeschlagen, denn er war mein einziger Freund.

Es gab genug zu tun. Ich bohrte nach Wasser, untersuchte die Luft und analysierte einige rostrote, gurkenartige Früchte. Auch Mac musste sich mit ihnen beschäftigt haben, denn ich fand im Labor unter dem Mikroskop einige Gewebeschnitte. Ich konnte nichts Verdächtiges an ihnen feststellen, sie enthielten die üblichen Elemente kohlenstofforganischen Gewebes, die rote Farbe kam von einer Verbindung, die dem Karotin verwandt war. Ich bereitete daraus Salat, der mir ausgezeichnet schmeckte.

Die Einsamkeit tat mir nicht gut. Ich dachte über die verschiedensten Dinge nach und gelegentlich ertappte ich mich dabei, dass ich laut zu mir selbst sprach. Manchmal hatte ich Anfälle von Müdigkeit und eines Tages bemerkte ich, dass meine Haut faltig wurde und einen klebrigen Stoff ausschwitzte, der bald erstarrte und hornige Überzüge bildete. Sie juckten, und ich kratzte sie mühsam weg. Ich schickte einen Funkspruch ab und bat um einen Arzt, aber ich wusste, dass vor einem halben Jahr mit keiner Antwort zu rechnen war.

Am nächsten Tag packte mich die Müdigkeit mit einer Stärke wie nie zuvor. Ich schleppte mich zu Bett und merkte im Eindämmern gerade noch, dass ich nass vor klebrigem Schweiß war...

Als ich erwachte, fühlte ich mich seltsam leicht und befreit. Mit einiger Verwunderung merkte ich, dass ich die Wand rechts neben dem Bett und links das ganze Zimmer bis zum Boden hinunter sah, ohne die Augen bewegen zu müssen. Ich richtete mich auf... Zugleich mit der Verwunderung über ein fremdes Körpergefühl überkam mich ein fassungsloses Staunen: Ich blickte an meinem Körper entlang – ich war kein Mensch mehr oder zumindest nicht mehr das, was man unter einem Menschen zu verstehen pflegt. Ich hockte auf langen Heuschreckenbeinen, meine Arme liefen in Flügel aus, meine Haut war blau und weiß gefiedert.

Es ist ein wunderbares Gefühl, sich in die Luft abzustoßen, der Schwere zu trotzen, sich emporzuschwingen, die Welt tief unten zu sehen. In die Freude darüber mischt sich aber stets die Trauer um Mac und um das Furchtbare, was ich ihm angetan habe. Ich habe den Gemeinschaftsraum nie mehr betreten. Er war wohl der erste Mensch, der seine Entwicklung vollendete.

 

Dieser Text stammt aus dem vergriffenen Taschenbuch-Band "Der grüne Komet" von Herbert W. Franke und ist hier Teil einer kleinen Reihe mit diesem Autor. Das Buch ist zum Teil noch antiquarisch erhältlich, zum Beispiel hier.  Einige Erläuterungen zu Autor und Anlass finden Sie bei der ersten Folge.

Weitere Informationen zu Herbert W. Franke auf seiner eigenen Seite sowie bei Art Meets Science.

 

Veröffentlicht am: 14.12.2012

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