"Ilona.Rosetta.Sue" in den Kammerspielen

Das Leben ist eine globalisierte Dreckskneipe

von Gabriella Lorenz

Dampfen in der Dreckskneipe. Steven Scharf, Starlette Mathata. Foto: Ene-Liis Semper

Nein, diese Rosetta stammt nicht aus „Leonce und Lena“, wie man im Büchner-Jahr vermuten könnte. Sondern aus dem Film „Rosetta“ der belgischen Regie-Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne. Aber den Jobverlust teilt sie mit der als Mätresse verabschiedeten Büchner-Tänzerin. Und mit zwei weiteren Filmfiguren: In Aki Kaurismäkis „Wolken ziehen vorüber“ wird die Kellnerin Ilona gefeuert, bei Amos Kollek fliegt „Sue“ aus ihrem Bürojob. Regisseur Sebastian Nübling hat in seiner Kammerspiele-Inszenierung „Ilona. Rosetta. Sue“ die Schicksale der drei arbeitslosen Frauen zu einem Prekariats-Puzzle verknüpft. Er beleuchtet die allgemeine Misere wirkungsvoll mit LED-Licht, erzählt jedoch über die bekannte soziale Abwärtsspirale hinaus nichts Neues. Nach zwei knappen, aber deutlich länger wirkenden Stunden, viel Beifall.

Herausragend an der Aufführung ist die Zusammenarbeit von Schauspielern verschiedener Sprachen, die alle neben Englisch gesprochen werden (mit deutschen Übertiteln). Und das ungeglättete Nebeneinander unterschiedlicher Spielweisen, die durchaus drei Welten andeuten. In „Three Kingdoms“ hatten Nübling und die Kammerspiele erstmals eine dreisprachige Koproduktion mit Theatern in London und dem estnischen Tallinn gewagt - mit großem Erfolg. Bei dieser Weiterführung des trinationalen Projekts ist nun statt der Engländer das KSV-Theater aus Brüssel dabei, das von seiner kongolesischen Gast-Schauspielerin Starlette Mathata vertreten wird.

Sie spielt die taffe Oberkellnerin Ilona, die partout nicht aufgibt. Ihr labiler Mann Lauri (Steven Scharf) ist als Busfahrer auch gerade wegrationalisiert worden. Starlette Mathata zeigt eine aufrechte, starke Kämpferin, die selbst in der letzten Dreckskneipe noch alles gibt. Und um den Lohn betrogen wird, was Lauri, der das Geld einfordert, fast das Leben kostet. Kämpferisch ist auch die Küchenhilfe Rosetta, aber aufrührerischer: Mirtel Pohla ist ein wütendes, überfordertes Punk-Mädchen, das noch eine Alkoholikerin-Mutter (Marika Vaarik spielt sie völlig schonungslos) versorgen muss. Und schließlich die einzige Person, die ihr hilft (sportiv und selbstbewusst: Sylvana Krappatsch) verrät, um deren Job zu bekommen.

Three Mics for a Hooker. Wiebke Puls. Foto: Ene-Liis Semper

Die bindungsunfähige Sue will noch ihre Höhere-Tochter-Fassade aufrechterhalten, stolpert jedoch ziel- und haltlos in die Gosse: Bravourös zeigt Wiebke Puls, wie Sue aus  Einsamkeit in die Prostitution schlittert. Die drei Frauen begegnen sich nicht, haben aber gemeinsame Anlaufstellen wie das Arbeitsamt. Ein langer Werktisch teilt diagonal die Bühne (Ene-Liis Semper), mal Küchen-Fließband, mal Büro, Callcenter, Getränke-Discounter oder privates Waschbecken. Alles getaucht in eine diffuse, ortlose, anonyme Großstadt-Atmosphäre mit nervösem Sound (Lars Witterhagen).

Nüblings Inszenierung ist stark, wenn sie bei Theatermitteln bleibt: Es gibt wunderbar choreografierte und stilisierte Szenen. Sie hängt durch, wenn sie mit Film-Großaufnahmen konkurriert und Darsteller lange  still an die Rampe stellt. Die Schauspieler sind alle glänzend, die fünf vom NO99 aus Estland verblüffen mit stupender physischer Präsenz. Aber was vermittelt die  Überhöhung der drei Schicksale ins Allgemeine? Eigentlich nur, dass das die Psyche deformierende Sozial-Elend (alle Filme wurden 1995 - 1998 gedreht) immer noch dasselbe ist. Bloß jetzt globalisiert.

Kammerspiele, 21., 22., 24., 25. Oktober 2013, 19.30 Uhr, Telefon 233 966 00

Veröffentlicht am: 21.10.2013

Über den Autor

Gabriella Lorenz

Gabriella Lorenz ist seit 2010 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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