"Elementarteilchen" bei Radikal Jung im Volkstheater

Eine Reise und ein Kuss - mitten ins Herz

von Jan Stöpel

Lebenslang auf der Suche: Bruno Clement. Foto: Simon Gosselin

Abendfüllend, atmosphärisch dicht, mit langer Nachwirkung: Julien Gosselins Inszenierung von Michel Houllebecqs Kultroman "Elementarteilchen" gehört zweifellos zu den Höhepunkten des Festivals "Radikal Jung". Jubel für das Theaterkollektiv "Si vous pouviez lécher mon Coeur" aus Lille. Und ein klares Votum: "Elementarteilchen" ist Publikumssieger von "Radikal Jung" 2014.

Es beginnt in der Dunkelheit und endet im Licht. Während die Bühne noch ins Dunkel getaucht ist, in dem sich erst ganz allmählich Podeste, Stufen, Pulte, Tische, Musikinstrumente, Lampen und Menschen erahnen lassen, hört man leise Musik. Und eine Frauenstimme. Eindringlich spricht sie, manchmal hört sie sich brüchig an. Eine große Trauer schwingt mit in diesem Bericht von Zorn, Angst, Wut, Liebe. Es ist ein Bericht über eine Reise. Die metaphysische Reise der Menschheit. Und "jetzt, da Licht unsere Körper umgibt, sind wir angekommen". Ein lautes Summen wie ein Wecksignal - dann helles Licht. Es geht los.

Die ersten Minuten geben den Grundton vor. Was das Pathos und die Monumentalität betrifft, ebenso wie die Richtung dieser Geschichte von Houellebecq, die - ein New-Age-Testament mit kritischen Fragen am Ende - die Entwicklung der Menschheit durch Überwindung ihrer selbst beschreibt. Die metaphyischen Revolutionen erst durch das Christentum, dann den Materialismus, und den daraus folgenden Verfall der Werte und Sitten. Bis ein Wissenschaftler die dritte Revolution anlegt. Im Labor, alle Störfaktoren ausschließend. Er wird den neuen Menschen schaffen, den geklonten Übermenschen. Nietzsches Erbe wird - damit die Menschheit auslöschen.

Es ist gleich an dieser Stelle angebracht, das Ausstattungsteam des jungen Regisseurs Gosselin zu nennen: Nicolas Joubert (Licht), Pierre Martin (Video), Julien Feryn (Ton), Guillaume Bachelé (Musik) und Caroline Tavernier (Kostüme). Weil es nicht so häufig vorkommt, dass Bühne und Stück in solchem Maße eine Einheit bilden. Das ist nicht Symbiose, es ist die Verschmelzung zu einem Imaginationsgroßraum, der alsbald auch von den Sitzreihen im Zuschauerraum Besitz ergreift. Nur ganz am Anfang ist man kurz geneigt, sich vor dem technischen Overkill auf einer Riesenbühne und sich vor einem möglicherweise zu langen Abend zu fürchten. Was sich aber dann in den folgenden dreieinhalb Stunden aus an sich einfachen Mitteln entwickelt, ist ein monumentales, mitreißendes, atmosphärisch dichtes Erlebnis.

"Si vous pouviez lécher mon Coeur" - heißt so viel wie: Wenn ihr mein Herz küssen könntet. Zehn Schauspieler und Musiker, die auf der Bühne zu einem Kollektiv verschmelzen: Guillaume Bachelé, Joseph Drouet, Denis Eyriey, Antoine Ferron, Noémie Gantier, Carine Goron, Alexandre Lecroc, Caroline Mounier, Victoria Quesnel, Tiphaine Raffier. Es gibt einen Kommentator, der ein bisschen aussieht wie Houllebecq selbst (Denis Eyriey). Er leitet ein in den äußeren Rahmen, in dem sich das Leben der ungleichen Halbbrüder Michel Djerzsinki (Antoine Ferron) und Bruno Clement (Alexandre Lecroc) abspielt: der eine auf der niemals endenden Suche nach sexueller Erfüllung, der andere wie ein Autist auf der Suche nach der Formel der Reproduktion.

Das ist doch... genau: Houellebecq (Denis Eyriey) führt in seinen Roman ein. Foto: Simon Gosselin

In dem Buch ist viel von Gewalt, Sex, Abartigkeit, Liebe, Krankheit und Tod die Rede. Was nicht bedeutet, dass es ein gewalttätiges, abartiges, krankes Buch sei. Vielmehr ist es - unabhängig von dem, was Houellebecq in Interviews geäußert hat - ein Buch, das ein Panorama der Menschlichkeit malt, der Menschen in ihrer Torheit und Abartigkeit, aber auch ihrer Fähigkeit zur Größe.

Gosselin vertraut dem Text. Breitet ihn aus. Lässt ihm den Raum, zu wirken. Bringt ihn mit voller Wucht, so dass bei allem Lärm, allem Trubel auch die bedrückende Einsamkeit und Vereinzelung der Figuren deutlich wird. Dass der Abend dennoch nicht tieftraurig ist, dass er sehr unterhaltsam, mitunter abstrus komisch ist - nicht der geringste Vorzug dieses wirklich bemerkenswerten Gastspiels. Jubel der verhältnismäßig wenigen, aber um so begeisterteren Zuschauer.

Veröffentlicht am: 15.04.2014

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