Im Probensaal mit dem Choreografen Alexei Ratmansky

"Wir wissen doch gar nicht mehr, was klassisches Ballett ist"

von Isabel Winklbauer

Alexei Ratmansky nach der Probe, mit Notizbuch und Teetasse bewaffnet. Foto: Isabel Winklbauer

Alexei Ratmansky (46) ist im Moment der begehrteste klassische Choreograf. Der Bolschoi-Tänzer und bis 2008 auch -Direktor arbeitete unter anderem für die Pariser Oper, das Mariinsky Ballett und das American Ballet Theatre. Den Prix Benois erhielt er 2005. Nun studierte er mit dem Bayerischen Staatsballett eine Rekonstruktion von „Paquita“ ein – an der Seite des Harvard-Choreologen Doug Fullington, der die Original-Notationen nach Choreograf Marius Petipa entzifferte.

Herr Ratmansky, wie wird Münchens neue "Paquita"? Haben Sie die Originalfassung modernisiert?

Nein, es ist wirklich nichts Modernes dabei. Es war mir eine große Freude, exakt den Stepanov-Notationen zu folgen, die Doug Fullington für uns übersetzte. Nur die pantomimischen Sequenzen sind ein wenig modernisiert, denn nach heutiger Auffassung übertreibt man hier nicht so ausufernd wie im 19. Jahrhundert.

Es bleibt also durch und durch klassisch?

Mit Paquita Ekaterina Petina im zweiten Akt. Foto: Isabel Winklbauer

Ja, es gibt es die ganze Bandbreite klassischer Ballettgesten, wie etwa das Deuten auf den Ringfinger für „Heiraten“, oder das Überkreuzen der Arme für „Tod“. Wir sehen Charaktertänze, eine Ballszene. Eine Sache könnte modern wirken: Es gibt einen Tanz mit zwölf Mädchen, von denen die Hälfte wie Männer gekleidet ist. Eine Travestieszene im Grunde. Doch sie entspricht dem historischen Original.

Haben Sie Doug Fullington nicht ein paar Mal widersprochen, als Ihr künstlerisches Gefühl etwas anderes sagte als die Notation?

Nein, dazu habe ich viel zu viel Respekt vor Petipa. Wir wissen doch heute gar nicht mehr, was das ist, Petipa. Damals wusste man, was Ballett ist! Nachdem Doug und ich bereits vor Jahren für „Le Corsaire“ zusammengearbeitet hatten, las ich diesmal selbst in den Notationen mit. Das ist wie eine Geheimsprache, eine  Zeitreise in die Vergangenheit. Die Technik des 19. Jahrhunderts ist sehr schwierig, eine Herausforderung für die Tänzer. Auch bei „Paquita“ wurde mir wieder einmal klar, dass im Laufe der Zeit vieles vereinfacht wurde.

Was genau ist im Original anders?

Die Szenen sind komplizierter, haben mehr Details. Wenn zum Beispiel im Grand Pas Classique die Ballerina in ihrer Variation eine spektakuläre Diagonale vollendet, schreitet sie nicht einfach zum Ausgangspunkt zurück, sondern dieser Rückweg ist mit Schritten gefüllt, die ebenso spektakulär sind. Oder die Drehungen: Die Herren halten die Damen oft nur mit einem Arm, was viel schwieriger ist. Heute wird in den Klassikern nur noch bequem mit zwei Armen gehalten.

Gibt es auch Unterschiede im Ausdruck?

Pantomime: Norbert Graf und Cyril Pierre baldowern etwas aus. Foto: Isabel Winklbauer

Ja. Die Arabesken sind sanfter, nie höher als 90 Grad, und meist Attitüden mit abgewinkeltem Bein. Heute tendiert man ja eher zu akrobatisch gestreckten 180 Grad. Es gibt auch mehr Wechsel im Épaulement, der Schulterhaltung. Das ist, wenn man so sagen will, sexier, es präsentiert den Körper besser.

Sie haben mit Kindern der Ballettakademie die berühmte Mazurka einstudiert. Warum blieben die Proben so streng geschlossen?

Die Mazurka ist ein schweres Stück für die Kinder. Sie dürfen sich heute ja zum Glück überall sehr frei bewegen, Jungs und Mädchen sind in allem gleich. Hier aber müssen die Jungen sich stolz wie Offiziere bewegen, die Mädchen wie Prinzessinnen. Gleichzeitig sind viele Wendungen und Wechsel zu bewältigen. Um das wirklich gut einzustudieren, reicht die Zeit eigentlich gar nicht aus.

Ihre Männersoli sind berühmt. Was dürfen die Münchner hier erwarten?

In „Paquita“ gibt es nur zwei Männerrollen: Lucien, den Guten, und den bösen Gegenspieler. Der Böse tanzt gar nicht, Lucien sehr wenig. Ich habe deshalb eine Variation aus „Coppélia“ für Lucien eingefügt. Das geht durchaus konform mit der Tradition des 19. Jahrhunderts. Damals fügten die Tänzer ja auch nach eigenem Belieben Variationen ein, in denen sie ihr Können zeigten.

Alistair Macaulay von der New York Times nennt Sie den "talentiertesten, auf Klassik spezialisierten Choreografen unserer Zeit". Was macht Sie so gut?

Judith Touros (li.) und Thomas Mayer (nicht im Bild) stehen Ratmansky zur Seite. Foto: Isabel Winklbauer

Das war wirklich ein nettes Kompliment. Ich bin nun mal ein klassischer Bolschoi-Tänzer. Auch wenn ich meine wichtigsten Erfahrungen im Westen gemacht habe, hat mich diese klassische Ausbildung nie verlassen, ich habe sie immer angewendet und weitergegeben. Die Kunst der Vergangenheit ist ein elementarer Teil unserer täglichen Arbeit. Wir dürfen sie nicht vernachlässigen, denn sie ist anders, als wir denken.

Stirbt das klassische Ballett eines Tages aus?

Davon kann keine Rede sein! Jede Kleinstadt hat ihre Ballettschule, die Menschen lieben Ballett. Wenn sie in den Theatern erstklassige Qualität sehen, werden die Leute auch immer wieder kommen. Und mit Qualität meine ich nicht 180-Grad-Posen. Die mögen im modernen Tanz gut aussehen, im Tutu sind sie hässlich. Ich bin froh, dass das hier in München keiner versucht.

Die Premiere von „Paquita“ ist am 13. Dezember 2014, Nationaltheater, 19.30 Uhr. Als Paquita sind Ivy Amista, Ekaterina Petina und Daria Sukhorukova besetzt, als Lucien Tigran Mikayelyan, Lukas Slavicky und Maxim Chashchegorov. Wer die Premiere tanzt, steht noch nicht fest.

Veröffentlicht am: 06.12.2014

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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