Das Schmelzen des Eises

von Jan Stöpel

So schmelzen die Gletscher: "fleck. schwinden" in der Black Box. Foto: Franz Kimmel

Plastik aus Licht und Bewegung, Bilder ohne Leinwand, Schilderung ohne Worte: Die Tanzinstallation „fleck.schwinden“ von Anna Konjetzky zeigt bemerkenswert unaufgeregt und konzentriert, was modernes Tanztheater vermag.

Ein leiser Pfeifton bohrt sich ins Gehör der Zuschauer, ein Poltern und Krachen mischt sich drunter,  als sei es aus der Unterwelt aufgestiegen. Die Dark Box im Gasteig macht zunächst ihrem Namen alle Ehre, dann steigt langsam ein Bild aus der Dunkelheit empor: Im sanften Glimmen der Scheinwerfer sieht man aus der Vogelperspektive über den Boden der Dark Box Leinen, straff gespannt wie Saiten. Bald beginnen sie zum Sound zu vibrieren. Der erste Teil eines Tryptichons mit dem Titel „fleck.schwinden“ sickert ins Bewusstsein. Was das mit Tanz zu tun hat? Die Bewegung, so reduziert wie nur möglich, das meditative Element, das Aufgehen im Moment. Man beobachtet die oszillierende Schwingung als seismographische Aufzeichnung von einem Prozess, der gerade beginnt.

„Für mich war der Ausgangspunkt, die Inspirationsquelle für „fleck.schwinden“ die Natur mit ihrer fortlaufenden und stetigen Bewegung. Abbrechende Gletscher, austrocknende Flüsse, Vulkanausbrüche bergen kontinuierliche Veränderung in sich“, sagt die Choreographin Anna Konjetzky. „Es sind Bewegungen, die im Kleinsten, Unsichtbaren beginnen, sich ,zusammenbrauen' und schließlich ,ausbrechen' – nicht nur sichtbar, sondern unübersehbar werden.“

Unübersehbar? Im zweiten Teil auf jeden Fall. Da wirbeln die vier Mitglieder der Tanztruppe, ballen sich zu Klümpchen, driften auseinander, in präzis gezirkelten Bewegungen von hoher Schwierigkeit, torkeln, springen, fliegen, durchmessen nur anscheinend ungeordnet den Raum, finden in der Tiefe der Dark Box im Raum Beschränkung und Freiheit: Nur innerhalb von Regeln, und seien sie vorgegeben durch die Maße der Architektonik, lässt sich Entfaltung zelebrieren. So bringt Konjetzky das nur auf den ersten Blick Chaotische der Natur und die Welt der Kunst zusammen. Das reduzierte Licht, die konzentrierte Kraft der Bewegungen zwingt den Blick der Betrachter in die Tiefe der Black Box, und so wird man gefesselt Zeuge von Eruptionen, Lawinen.

Am anschaulichsten wirkt der dritte Teil dieser in den Raum gemalten Dreisamkeit. In weiße Kostüme gehüllt, klammern sich die Vier an den oberen Rand einer schiefen Ebene, deren Oberfläche durch unregelmäßige Aussparungen durchbrochen ist. Die Musik tröpfelt und vibriert in den ansonsten dunklen Raum. Nur langsam kommt Bewegung in den Menschenklumpen. Wie die vier Tänzer die Ebene in reduzierten, langsamen Bewegungen dem Ende entgegenrutschen,  wie sie widerstrebend sinken und taumeln, Schneeklumpen gleich Halt finden an den Aussparungen – das hat die Qualität eines imaginären Bildes. Wir sehen Gletscher, wir sehen Eis schmelzen. War das die Erderwärmung oder doch der erste Hauch von Frühling?

Veröffentlicht am: 28.02.2011

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