Hommage für Eve Arnold

Festhalten, einfangen, erfassen – so schwer ist große Fotografie

von Achim Manthey

Die ersten fünf Minuten im Leben eines Babys, Long Island, New York, 1959 (c) Eve Arnold/Magnum Photos

Eine beeindruckende Ausstellung in München ehrt die bedeutende Magnum-Fotografin – und ist zugleich ein Nachruf.

Ein in sich versunkener Weltstar: Das 1960 in der Drehpause zu The Misfits – Nicht gesellschaftfähig in der Wüste von Nevada entstandene Farbfoto zeigt Marylin Monroe, die in einem roten Pickup sitzt, den Arm aus dem Fenster gelehnt, einen Finger zwischen den Lippen, den Blick nach innen gekehrt. Die Aufnahme offenbart die ganze Verletztlichkeit und Sensibilität der Schauspielerin jenseits der Glamour-Fassade.

Kennengelernt hatten sich die Monroe und Eve Arnold Anfang der 1950er Jahre. Daraus ergab sich eine Zusammenarbeit, die über ein Jahrzehnt andauern sollte: Portraits entstanden, Studioaufnahmen, Marylin bei Filmpremieren und groß aufgemachten Abflügen zu irgendwelchen Veranstaltungen, oder auch nur im Waschraum des Flughafens von Chicago. Immer wieder gelingen der Fotografin Aufnahmen, die einen Blick in die Seele der Schauspielerin erlauben. Niemand aus der Zunft der Lichtbildner sei dem Star je so nahe gekommen, heißt es.

Eva Cohen wird am 21. April 1912 – eine Woche zuvor war die Titanic gesunken – als Tochter russischer Emigranten in Philadelphia geboren. Als einziges der neun Kinder beginnt sie ein Medizinstudium. Die Eltern sind entsetzt, als sie die akademische Ausbildung abbricht. Ihr damaliger Freund hatte ihr eine Rolleicord, eine abgespeckte Spiegelreflexkamera geschenkt und sie beginnt, sich der Fotografie zu widmen. In kürzester Zeit erlernt sie bei Alexei Brodowitsch, dem Art Direktor von Haaper's Bazaar, das Fotografenhandwerk. 1948 heiratet sie den Industriedesigner Arnold Arnold, ein Jahr später kommt ihr Sohn Frank zur Welt.

Am Set von "Nicht gesellschaftsfähig", Nevada, 1960 (c) Eve Arnold/Magnum Photos

Als erste Frau wird Eve Arnold 1951 bei Magnum Photos aufgenommen. Beworben hatte sie sich mit einer 1950 entstandenen Serie "Modeschau in Harlem", aus der Bilder in der Ausstellung zu sehen sind. 1957 wird sie Vollmitglied er Agentur. 1961 übersiedelt die Familie nach London, wo sie seither lebt und arbeitet und von wo aus sie ihre Expeditionen in alle Welt startet. Ihren 100. Geburtstag hat sie nicht mehr erlebt. Am 4. Januar 2012 stirbt Eve Arnold 99-jährig in einem Londoner Pflegeheim. Sie hinterlässt einen Fundus von mehr als einer Dreiviertelmillion Bilder.

Bis heute sind die Fotografen der Agentur Magnum dem von ihrem Mitbegründer Henri Cartier-Bresson geprägten Leitsatz, den Finger auf die Wunden der Zeit zu legen, verpflichtet. Eve Arnold ist dem mit ihrem Oevre stets besonders nahe gekommen. Alltagsereignisse, persönliche Schicksalsschläge und Erfahrung prägen ihr Werk. "Manche Arbeiten kehren immer wieder in meiner Arbeit", verriet sie einmal. "Ich war arm und wollte die Armut dokumentieren. Ich hatte ein Kind verloren und war besessen vom Thema Geburt. Ich interessierte mich für Politik und wollte wissen, was für Auswirkungen sie auf unser Leben hat. Ich bin eine Frau, und ich wollte mehr über Frauen wissen."

Die Münchner Ausstellung zeigt 122 Fotografien, die einen umfassenden Überblick über das Schaffen der Fotokünstlerin bieten. 1959 entstandene Aufnahmen zeigen Joan Crawfort beim Schminken und bei der Massage. Es sind liebevoll distanzierte Fotos der altenden Schauspielerin. Auftritte von Malcom X sind ebenso dokumentiert wie Versammlungen der amerikanischen Nazi-Partei. Besonders berührt die 1959 aufgenommene Serie "Die ersten fünf Minuten im Leben eines Babys", aus der einige Bilder gezeigt werden. Auf zahlreichen Reisen in alle Welt zwischen 1969 und 1984, die Arnold nach Südafrika, China, Afghanistan und Indien führten, entstanden eindrucksvolle Dokumente von Lebensweisen, die der westlichen Welt zu der Zeit noch fremd waren. Die größere der beiden Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan, die 2001 von den Taliban gesprengt wurden, ist zu sehen, eine Braut in Erwartung ihres künftigen Ehemannes, den sie noch nie zuvor gesehen hat. Das Portrait einer alten Chinesin (1979) erzählt einen ganzen Roman. Nur auf den ersten Blick als Schnappschuss erscheint das Foto der Reiterakrobaten in der Inneren Mongolei, die, als hätten ihre Pferde gleichzeitig eine Vollbremsung hingelegt, über deren Köpfe hinweg nach vorn abspringen.

"To catch, to capture, to seize" – dieses alte Fotografenmotto beherrschte die Künstlerin meisterhaft. Das Instrument ist der Fotograf, die Kamera lediglich Hilfsmittel. Ihr Kollege Elliot Erwitt beschrieb sie 2007 so: "Eine große Künstlerin von zierlicher Gestalt. Eve Arnold ist eine typische Journalistin: Ein neugieriger Augentausch, die unauffällige Fliege an der Wand, die alles beobachtet, ohne sich einzumischen oder auf sich aufmerksam zu machen, mit eigener Meinung, aber frei von Vorurteilen." Exakt dies beweist die Münchner Ausstellung.

Bis zum 3. Juni 2012 im Kunstfoyer der Versicherungskammer Bayern, Maximilianstraße 53 in München, täglich von 9 bis 19 Uhr, an gesetzlichen Feiertagen geschlossen, Eintritt frei

 

 

 

 

 

Veröffentlicht am: 10.05.2012

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