Karl Stankiewitz schaut zurück auf 50 Jahre Olympische Spiele in München, Teil I

Der Schuldenberg war eine Legende, die kalte Kommerzialisierung nicht

von Karl Stankiewitz

Zeltdach im Winter. Foto: Thomas Stankiewicz

München 1972: Die Stadt ist zu einem Fass ohne Grund und Boden geworden, zu einem warnenden Beispiel für andere Entwicklungsstädte. Mit einem immer schneller, immer gewaltsamer werdenden Automatismus droht die in säkularem Wandel begriffene Olympiastadt, wie ihr Oberbürgermeister öffentlich bekennt, zu einem „steinernen Meer“ zu werden. Obwohl Hans-Jochen Vogel zugleich seinen Stadtrat warnte, dass man mit jeder Milliarde für den Verkehrsausbau „unsere Stadt dem Tode näher bringt“, wurden neue gewaltige Investitionen beschlossen, wurden Fehlplanungen größten Ausmaßes bestätigt, wurden Kostensteigerungen bis zu Hunderten von Millionen bekannt, die nicht nur die Steuerzahler in München und Bayern treffen.

Zu Beginn des Olympiajahres 1972 überschlagen sich die Hiobsbotschaften in jener ach so „dynamischen“ Stadt, die nach Feststellung ihrer Statistiker die teuerste Deutschlands geworden ist, eine wahre „Hauptstadt der Erd- und Kostenbewegung“, ein modernes Metropolis: Die Kosten für die S-Bahn, die München bis 1972 unterirdisch durchqueren wird, sind von ursprünglich 420 auf 730 Millionen DM geklettert. Die Mehrkosten werden wahrscheinlich von Bund und Land getragen werden müssen. Die Kosten für die städtische U-Bahn stiegen von 684 auf jetzt 720 Millionen DM. Auch hier sind Bund und Land über eine „Tunnelgesellschaft“ beteiligt und haftbar.

Olympiapark abends. Foto: Thomas Stankiewicz

Vogel äußerte sich „bestürzt“. Weil die amerikanische Armee trotz jahrelanger Bitten die Straße durch ein Kasernenviertel nicht freigibt, muss die Stadt für 48 Millionen DM einen Graben in Richtung Süden bauen, um den Ausflugsverkehr einigermaßen bewältigen zu können. Obwohl 1500 Anwohner protestierten und der OB von einer „Zumutung“ sprach, beschloss der Stadtrat den Bau einer 300 Meter langen provisorischen Stahlbrücke im Zuge der völlig überlasteten Stadtautobahn „Mittlerer Ring“, die auch den Ferienverkehr aufnehmen muss.

Eine Renovierung der Münchner Kammerspiele wird statt 3,8 Millionen über 4,7 Millionen DM Kosten und zu weiteren Zwangspausen bis Ende nächsten Jahres zwingen. Ein Untersuchungsausschuss des Landtags bescheinigte den städtischen Dienststellen bei Planung und Ausführung der fünfstöckigen „Underground-City“ am Stachus „Fehler in organisatorischer, planerischer, baurechtlicher, gemeinderechtlicher und haushaltsrechtlicher Hinsicht“. Kostensteigerung: von 92 auf über 172 Millionen DM. Während der Stadtrat zum Beispiel das von der Baugesellschaft gewünschte Groß-Café auf dem Olympiaberg, inmitten einer künftigen Erholungslandschaft, unter Berufung auf die Volksgesundheit und nicht ohne Druck der veröffentlichten Volksmeinung, ablehnte, bangt die Bevölkerung jetzt um das Erholungsgebiet bei Wald-Perlach, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft über 100.000 Menschen wohnen sollen. Ein Kiesgrubenbesitzer will hier ein Sportzentrum mit einem 352-Zimmer-Hotel errichten. Der Englische Garten, die größte „grüne Lunge“ der Stadt, wird schon von einem 1000-Betten-Hotel und riesigen Verwaltungsneubauten angefressen. Inzwischen hat die Bürgerschaft den monatelangen Kampf um eine der liebenswürdigsten Stätten Altmünchens endgültig verloren: In wenigen Tagen wird das bekannte Hofgartencafé „Annast“ schließen, damit eine auswärtige Bank künftig dort Hof halten kann. Das überforderte Stadtparlament glaubte noch, diese kalte Kommerzialisierung durch Erlass einer Veränderungssperre aufhalten zu können. Aber der Bank-Boss pfeift auf diese Gesetzesklausel aus dem 19. Jahrhundert: „Das berührt uns nicht; an der Fassade wird ja nichts verändert.“

Gang übers Stadion-Zeltdach. Foto: Thomas Stankiewicz

Hinter die überall plakatierte Losung „München wird moderner“ schreiben Zyniker jetzt: „So modern wie Wolfsburg.“ Vogel will zwar unter keinen Umständen resignieren, aber seine Rezepte klingen jetzt oft recht abstrakt: Eine Einschränkung des immer stärker werdenden Zuzugs – worauf Münchens Misere zu einem guten Teil beruht - sei administrativ nicht möglich; die rund 30.000 Zuwanderer pro Jahr sollten möglichst auf »Subzentren«, auf neue Kultur- und Wirtschaftszentren in der Region verteilt werden. Innerhalb der Kernstadt aber müssten dennoch »gewisse Mindestausstattungen« geschaffen werden, ohne die Stadt dem Moloch Verkehr zu opfern. Wenige Stunden nach dieser Erklärung erlebt der Verkehr in der gesamten Innenstadt wieder einmal einen totalen Zusammenbruch... Schon am 26. Juni 1970 war das größte Tiefbauwerk Europas mit der größten unterirdischen Ladenstadt von Oberbürgermeister Vogel eröffnet und von Kardinal Julius Döpfner eingeweiht worden. Der fünfgeschossige Tiefbau soll systematisch zur wichtigsten Verkehrsdrehscheibe Münchens und seiner Region ausgebaut werden. Am 26. April 1972 wird die 4,3 Kilometer lange Tunnelstrecke der S-Bahn zwischen Hauptbahnhof und Ostbahnhof für den Probebetrieb eröffnet. Am 28. Mai folgt die Inbetriebnahme der S-Bahn. Zugleich tritt der Münchner Verkehrsverbund MVV in Kraft, nachdem die U-Bahn schon seit 19. Oktober 1971 zwischen Goetheplatz und Freimann verkehrt.  Am 28. Juni 1972 kann die Olympische Baugesellschaft – im Beisein von Bundeskanzler Willy Brandt und des seit wenigen Tagen amtierenden Vogel-Nachfolgers Georg Kronawitter - die Sportstätten an das NOK übergeben.

Sonnenuntergang im Olympiapark. Foto: Thomas Stankiewicz

„Es ging um ein Bauwerk von europäischem Rang, das seine Bedeutung bis heute erhalten hat“, sagt Alt-OB Hans-Jochen Vogel 2012 anlässlich des 40jährigen Jubiläums der von ihm initiierten Münchner Olympischen Spiele in einem Interview mit der Abendzeitung. Eine Gesellschaft müsse die Kraft aufbringen, dafür auch einmal eine Kostenexplosion hinzunehmen. Im März 2021, während der durch die Corona-Pandemie erzwungenen Betriebspause, veröffentlicht die stadteigene Olympiapark Gesellschaft eine offizielle Bilanz der XX. Olympischen Sommerspiele: Danach beliefen sich die Gesamtkosten auf rund 1940 Millionen DM, wovon rund 1350 Millionen DM auf Investitionen in München entfielen. (Ursprünglich war man auf die symbolische Gesamtsumme 1972 Millionen gekommen.) Diese umfassten nicht nur die Sportbauten auf dem Oberwiesenfeld und die landschaftliche Gestaltung, sondern auch die Verkehrserschließung, die Olympia-Regattastrecke in Oberschleißheim, die Schießanlage in Hochbrück, die Basketballhalle (Rudi-Sedlmayer-Halle) an der Siegenburger Straße, den Aus- beziehungsweise Neubau von Hallen im Messegelände, die Reitanlage in Riem und die Kanu-Slalom-Anlage in Augsburg.

Von der Gesamtsumme konnten rund zwei Drittel durch Einnahmen des OKs, durch den Verkauf der Olympia-Münzen, durch eine Fernsehlotterie und durch die mit Toto und Lotto kombinierte Olympia-Wette aufgebracht werden. Die restlichen 590 Millionen DM wurden zu 50 Prozent vom Bund und zu je 25 Prozent vom Freistaat Bayern und von der Landeshauptstadt München finanziert. Da sich diese Belastung auf sechs Jahre verteilte, konnte sogar die Stadt München ihren Anteil jeweils aus dem laufenden Haushalt bestreiten. Einen „olympischen Schuldenberg“, von dem wiederholt die Rede war, habe es nach offizieller Nachrechnung nie gegeben. Die wirtschaftliche Entwicklung des Olympiaparks verlief bisher weitaus günstiger als erwartet. Seit Ende der Spiele sind im Olympiapark über 8800 sportliche, kulturelle und kommerzielle Veranstaltungen mit insgesamt über 157 Millionen Besuchern über die Bühne gegangen: 30 Welt- und 12 Europameisterschaften, 85 deutsche Meisterschaften, Popkonzerte und Shows, Faschingsbälle und Zirkusgastspiele, Ballettaufführungen und Folkloreveranstaltungen, Ausstellungen und Kongresse. Zum Freizeitsport, zu Besichtigungen und Führungen kamen im gleichen Zeitraum rund 70 Millionen Menschen. Hinzu kamen bis zum ersten Lockdown wegen der Corona-Pandemie im März 2020 täglich bis zu 2000 trainierende Sportler und allein an schönen Wochenenden bis zu 30.000 Spaziergänger. „Der Münchner Olympiapark hat sich damit zum größten Veranstaltungs- und Freizeitzentrum Europas entwickelt“, heißt es in der Schlussbilanz.

 

„50 Jahre Olympiapark – Impulse für Münchens Zukunft“ – so lautet der Titel der neuen Jahresausstellung, die das Referat für Stadtplanung und Bauordnung noch bis zum 11. März 2022, täglich von 13 bis 19 Uhr in der Rathausgalerie am Marienplatz zeigt. Alle Informationen unter http://muenchen.de/olympiapark50; der Eintritt ist frei. Die Sonderpublikation zur Ausstellung „50 Jahre Olympiapark“ liegt kostenlos in der Rathausgalerie und im PlanTreff, Blumenstraße 31, zur Mitnahme aus.

Veröffentlicht am: 22.01.2022

Andere Artikel aus der Kategorie