Wunder von Traunreut: Giftgasdepot wird größte Stadt im Chiemgau und Kulturzentrum

von kulturvollzug

Nordhalle DASMAXIMUM, Foto: Löffler (c) DASMAXIMUM

Am Anfang ist nichts als eine Ansammlung von gesprengten Bunkern, verfallenen Baracken und schiefen Schuppen. Dort hatte das Heeresmunitionssamt im Krieg seine Giftgasbestände gelagert. Als die Amerikaner 1948 abziehen, quartieren sich in die als Bauernhöfe getarnten „Pulverhäuser“ mitten im Wald  80 Vertriebene aus dem Sudetenland ein, elf von ihnen kommen als „Kampfstoffarbeiter“ ums Leben. Trotzdem wächst die kleine Siedlung rapide. 1949 gründen Siemens und ein Feinmechanikbetrieb auf dem 3000 Hektar großen Gelände der „Muna“ kleine oder größere Produktionsstätten. Der Zuzug insbesondere aus dem Osten hält unvermindert an. Und international bedeutendes Kulturzentrum ist die Stadt seit Juni 2011 auch.

Am 1. Oktober 1950 entsteht aus den Überbleibseln die jüngste politische Gemeinde Bayerns. Sie soll Traunreut heißen – Rodung an der Traun. 1381 Einwohner hat sie jetzt. Genau zehn Jahre später wird Traunreut zur Stadt erhoben, mit nun schon über 6000 Einwohnern. Weitere Unternehmen siedeln sich an, darunter die größte deutsche Strickwarenfabrik. Steigende Einnahmen aus der Gewerbesteuer versetzen die junge Stadt in die Lage, großzügig zu planen. Bogenförmige Erschließungsstraßen umfassen den Stadtkern. Der namhafte Architekt Hans Döllgast entwirft eine der beiden Kirchen: mit strenger, fabrikähnlicher Backsteinfront und Campanile. Wenn darin Pfarrkurat Wendelin Stöttner das Licht anmacht, witzelt man: „Die Stöttnerwerke haben Nachtschicht.“

Dan Flavin, European Couples, Foto: Franz Kimmel (c) Estate of Dan Flavin, VG Bild-Kunst Bonn 2011

Alles ist anders in Traunreut. Hier funktioniert Ökumene und sogar die erste Gemeinschaftsschule Bayerns, ein pastellbunter Pavillon mit 16 Klassen und elektrischer Sprechanlage. In den Jahren des Wirtschaftswunders entstehen Sport- und Tennisplätze, Segelclub und eine Luftsportgruppe. Arbeitern verhelfen Betrieb oder Staat durch Darlehen zu einem kleinen bäuerlichen Nebenerwerbsbetrieb. Gastspiele bekannter Orchester und Theater, Treffen von Wissenschaftlern – ein Füllhorn von Veranstaltungen, nicht zuletzt dank Förderung durch Siemens, dessen Direktor Knecht zunächst auch die Volkshochschule leitet. Hinzu kommen ein Mehrgenerationenhaus, ein Heimathaus und 2010 noch ein Kombinat „Kultur – Kongress – Kulinarium“.

Weil das Werden und geordnete Wachsen einer Retortenstadt – sie wird nach Eingemeindung umliegender Dörfer zur größten Stadt im Chiemgau - kaum irgendwo besser zu beobachten ist, entwickelt sich allmählich auch ein reger Besucherverkehr. Nun ist Traunreut nicht länger nur Industrie- und Schlafstadt, sondern auch ein spannender Schauplatz, eine Stadt in permanenter Bewegung. Aus aller Welt kommen Fachleute und bloß Neugierige; neulich erst eine Delegation aus China.

Walter de Maria, Equal Area Series, Foto: Franz Kimmel (c) Walter de Maria 1983

Inzwischen kann Traunreut durchaus im Tourismus mitspielen: mit zwei Hotels, vier Gasthöfen, 30 gastronomischen Betrieben und 50 Privatvermietern. Die Eisenbahn, die 43 Jahre lang stillgelegt war, fährt wieder hin. Ein historischer Lehrpfad und ein Rundwanderweg informieren Besucher über die höchst ungewöhnliche Geschichte einer „Europastadt im Chiemgau“, wie sie sich jetzt nennt. Aus 60 Ländern setzt sich die auf über 22 000 Einwohner vermehrte Bevölkerung zusammen. Ein Schmelztiegel.

Im Juli 2011 erlangt Traunreut gar noch in den Rang einer internationalen Kunstmetropole. Nachdem die Stadt schon seit 1985 Kunstpreise ausschreibt, eröffnet Heiner Friedrich, der sich als Galerist in München, Köln und New York einen bedeutenden Namen gemacht hat, in drei ehemaligen Fabrikhallen mit 2500 Quadratmeter Ausstellungsfläche ein einzigartiges Privatmuseum: „DASMAXIMUM“. Wo Heiner Friedrich senior in den 1950er-Jahren Deutschlands ersten Cabrio-Dreisitzer, den „Spatz“, aus Kunststoff produziert hatte, sieht man jetzt hinter buntbemalten Fassaden großformatige Hauptwerke von Andy Warhol, Walter de Maria, Georg Baselitz, Uwe Lausen, Dan Flavin und anderen Repräsentanten der „Kunst-Gegenwart“. Ein neuer Magnetpol für den Kulturtourismus zwischen München und Salzburg.

Karl Stankiewitz

Veröffentlicht am: 17.12.2011

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