Oberklasse sticht Untergiesing
Proletarische Herzlichkeit, Altmünchner Derbheit – hier die Hans-Mielich-Straße. Bleibt das Viertel, wie es ist? Alle Fotos: Achim Manthey
Erst kamen ein paar Kreative, dann machte die Burg Pilgersheim dicht. Jetzt müssen die alten Bewohner schauen, wo sie bleiben – eine Reportage aus Münchens umkämpftestem Stadtviertel.
Es muss im Frühsommer letzten Jahres gewesen sein, als einer von ganz oben aus dem Fenster sprang. Der arme Tropf schlug direkt neben den Tischen auf der Freifläche eines kleinen Cafés auf, als wäre man mitten in München in einem schlechten Horrorfilm. Als die Polizei am Jakob-Gelb-Platz eintraf, konnte sie auch gleich noch einen Kehrmaschinenfahrer festnehmen, der mit 2,6 Promille Alkohol im Blut reihenweise Autos auf der Pilgersheimer Straße ramponierte. Drunten in der U-Bahn-Station Candidplatz begann es derweil eigenartig zu riechen. Da saß ein offenkundig sehr kranker Mensch auf der Bank in der regenbogenbunten Höhle des öffentlichen Nahverkehrs und zündelte mit dem Feuerzeug an seiner Hand herum, bis die Haut zu schmoren begann. Nur oben auf der anderen Straßenseite, im Biergarten der Wirtschaft Burg Pilgersheim, blieben die Gäste noch gelassen, während um sie herum die Welt aus den Fugen geriet. Sie beobachteten das An- und Abfahren der Rettungsfahrzeuge, berichteten den Passanten auf dem Bürgersteig durch den Zaun hindurch, was sie da gerade gesehen hatten, bestellten noch ein Bier und beschlossen, das Café von gegenüber von nun an Café Springer zu nennen.
„Seit die Burg weg ist, bin ich da nie mehr hingegangen. Der Laden ist tot“, sagt ein Alteingesessener.
Es geht nicht immer so makaber und traurig zu in Untergiesing, aber manchmal geschehen dort eben Dinge, die in keinem anderen Münchner Stadtviertel möglich wären. Die Mischung aus proletarischer Herzlichkeit, altmünchner Derbheit und angeschmuddeltem Multikulturalismus umfängt die Menschen wie ein warmer Mantel in ihrer ansonsten meist eher frostig-prekären Gesamtlage. In Untergiesing fühlt man sich schneller daheim als anderswo. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht im Geviert zwischen dem Mittleren Ring im Süden und der Schienentrasse im Norden, also sozusagen zwischen Autobahn und Eisenbahn. Bislang waren dem Rest der Welt die speziellen Untergiesinger Qualitäten herzlich egal.Inzwischen ist das nicht mehr so: Kreative Unternehmer und Künstler vermuten hier das künftige In-Viertel der Landeshauptstadt und ziehen in die Ladengeschäfte und Wohnungen, Investoren erkennen den Trend und beginnen mit Immobiliengeschäften, wie sie in solchen Fällen üblich sind: Kaufen, sanieren, teurer verkaufen – mit allen Folgen.
Neulich gab's mal wieder Tote in Untergiesing. Am Hans-Mielich-Platz hatte man, es war schon gegen Abend und dunkel, rote Scheinwerfer aufgebaut, um die Szenerie auszuleuchten. In einem Laden namens „Café Lü“, der tagsüber seit einiger Zeit Kreativenfutter wie Reis-Ingwer-Kreationen und kreolischen Garnelen-Salat feilbietet, drängten sich Studentinnen, die allesamt aussahen, als würden sie als Berufsziel „irgendwas mit Medien“ angeben. Die Party lief auf vollen Touren, schließlich ereignete sich hier gerade „Mord in Giesing - Münchens aufregendstes Stadtabenteuer“, eine Art Schnitzeljagd-Event für Erwachsene. An dieser Stelle seines Viertels ist der Untergiesinger meist auf dem Weg durch die Kühbachstraße von oder zum Aldi. Angesichts rot ausgeleuchteter Event-Morde schüttelt er aber den Kopf und geht weiter.
„Insgesamt ist's schon schad“, sagt Richard May von „R+C Getränke“, wenn man ihn in seinem kleinen Laden an der Krumpterstraße auf die vielen Veränderungen in Untergiesing anspricht. „Ich hab' ja nix gegen Architekten, aber da drüben war halt vorher eine Drogerie drin“, deutet er auf ein Planungsbüro an der Kreuzung zur Hans-Mielich-Straße. Seit 18 Jahren führt er das Geschäft, seine Mutter hilft an der Kasse, wenn zum Wochenende hin viel los ist. „Und jetzt gibt’s auch noch dieses neue Lokal“, redet er weiter und meint das Charlie am Schyrenbad, das seit einigen Monaten als „In-Lokal“ gefeiert wird. „Brauchen wir denn sowas in Untergiesing? Aber gut, fairerweise muss man dazusagen, dass der Laden vor dem Charlie jahrelang leergestanden hat.“ Anschließend kommt das Gespräch geradezu zwangsläufig auf das Thema, über das in Untergiesing immerzu alle reden, wenn es um Veränderungen im Viertel geht: das Ende der Burg Pilgersheim.
Die schrullige Wirtschaft an der Pilgersheimer Straße mit Independent-Musik und den besten Schnitzeln rechts der Isar war sozusagen das zweite Wohnzimmer aller Untergiesinger, vom Arbeiter bis zum Studenten, vom 60er-Fan bis zum Handwerksmeister. Vor gut einem Jahr begann die Luxussanierung – und der neue Hausbesitzer schleifte die Burg trotz aller Proteste und Unterschriftenlisten. Eine brummende und stets volle Bierkneipe war nicht mehr erwünscht. Es sollte etwas Ruhiges, Gediegenes her. „Pancho“ heißt seitdem das neue Lokal, ein Mexikaner. „Seit die Burg weg ist, bin ich da nie mehr hingegangen. Der Laden ist tot“, sagt Getränkehändler May, und wahrlich nicht nur er.
Jurate Lanzhammer etwa, die in einem der grauen Blocks an der dröhnenden Hochtrasse der Candidbrücke steht: „Untergiesing ist ein Viertel, wo die Leute noch ein Gefühl für Gerechtigkeit haben. Und dann gehen sie eben nicht mehr hin in so ein Lokal.“ Die Handwerkerfrau betreibt ihren „Schuhsterladen“ - aber nur noch wenige Wochen. Zum Jahresende muss sie raus aus der Anlage mit insgesamt 240 Wohnungen und kleinen Geschäften, die noch vor kurzem einer Tochter der Bayerischen Landesbank gehörte. Der neue Besitzer trägt den schönen Namen Rock Capital und hat seinen Sitz in Grünwald. Die schrundigen Nachkriegsblocks benannte er als erstes in „Hans-Mielich-Carree“ um, dann gab es eine flächendeckende Mieterhöhung von 20 Prozent für die privaten Mieter und noch mehr für die gewerblichen. „Mich zermalmt es hier“, sagt Lanzhammer. „Als ich dem Verwalter gesagt habe, dass ich die neuen Preise nicht verkraften kann, gab es nicht einmal ein Wort des Bedauerns. Es hieß einfach nur: ,Wir schicken gleich mal einen Makler vorbei.'“
Zermalmt hat es bereits den Bäcker Petermeier ein paar Häuser weiter. Auch sein Name ist inzwischen zum Synonym geworden in Viertel, gleich nach „Charlie“, „Burg“ und „Rock Capital“. Der Petermeier war der letzte Bäcker im Viertel, der sein Brot noch selbst buk. Lange wehrte er sich gegen die Kündigung, als der neue Eigentümer seines Hauses mit einer Sanierung begann und die lästige Brotproduktion loswerden wollte. Vergeblich - der Familienbetrieb wurde aufgelöst. Anstelle des alten Petermeier gibt es nun den schicken Backshop eines Filialisten.
So gärt und brodelt es an allen Ecken und Enden des einstigen Glasscherbenviertels. Es stehen Gerüste vor den Fassaden, werden Dachgeschosse ausgebaut und Treppenhäuser mit Liftanlagen nachgerüstet. Die neuen Mitbürger auf den Sonnendecks haben Designermöbel auf den Balkonen und Halogenstrahler hinter den Schreiben, das sehen die alten von unten. Und manchmal fahren die neuen Untergiesinger Autos wie jenen schwarzen Audi A8 mit Anwohnerparklizenz und Hamburger Kennzeichen, der wegen seiner panzerartigen Geräuschemissionen bei den Anwohnern um den Agilolfinger Platz herum berüchtigt ist. Am vorderen Teil der Konradinstraße gab es bislang schon ein kleines Kreativquartier mit Tonstudio und Agenturen in einer ehemaligen Fabrik – jetzt tauchen auch weiter hinten im ehemals reinen Wohngebiet auf den Klingelschildern Namen wir „Glockner Casting“ und „K+K Studios“ auf. Der andere Schuster im Viertel, ein älterer, hünenhafter Mann mit langem grauen Bart und einer winzigen Werkstatt neben dem „Pancho“ an der Pilgersheimer Straße, sagte noch im Sommer, er denke nicht, dass ihn die Haussanierung betreffen werde. Und dann war er plötzlich doch verschwunden, der Laden ausgeräumt und an der Tür ein Zettel mit einer Handynummer mit dem Zusatz „Zu vermieten“. Inzwischen ist auch der Zettel verschwunden, die Sanierung läuft.
Es kam der Tag, an dem die Situation am „Pancho“ eskalierte. Eines Morgens im September stand es in pinkfarbenen Versalien auf der frisch renovierten Hauswand, genau gegenüber dem Abgang zur U-Bahn: „HAU AB!“ hatte jemand in der Nacht an die Wand gesprayt, dazu zweimal das Logo der alten Burg Pilgersheim. Die Schmiererei war schnell wieder übermalt, aber seitdem ist klar, dass sich in Untergiesing auch mehr zusammenbrauen könnte als als nur der stille Unmut von ein paar Stadtviertel-Romantikern. Wer heute in das mexikanische Lokal geht und mit den Betreibern über ihre Situation sprechen will, hat ein zutiefst verunsichertes Pärchen vor sich sitzen, das seine Namen nicht nennen möchte und nur stockend Auskunft gibt: Ja, sie haben das Lokal vom Hausbesitzer angeboten bekommen. Nein, sie wissen nicht, was vor ihnen hier gewesen ist. Und Probleme? - Die gibt es lediglich wegen der Baustelle im Haus, die immer noch den Wirtsgarten blockiert.
„Ich hoffe, dass das hier kein zweites Pullach wird“, lächelt Bilal Ünsal, der 33 Jahre alte Chef vom Postcafé gegenüber der Kirche St. Franziskus. Sein Geschäft mit Bäckerei und Post-Filiale gehört zu den beliebtesten Treffpunkten im Viertel, alle mögen die flinke Freundlichkeit, mit der er und seine türkischen Kumpels die Kundschaft bedienen. „Pullach“ steht bei Ünsal symbolisch für einen Ort mit geldigen, unfreundlichen Menschen. In Pullach hatte Ünsal mal versucht, eine Filiale aufzumachen, doch das hat nicht funktioniert, es war nicht seine Welt. „Hier in Untergiesing grüßt man sich auf der Straße, und man hilft sich, wenn jemand etwas braucht.“ An den Mietpreisen seien die Veränderungen schon mehr als spürbar. Ünsal zeigt auf die Eisdiele ein paar Häuser weiter: „Über dem Geschäft hab' ich mir mal eine Wohnung angesehen, 120 Quadratmeter, nicht saniert. Die sollten 1400 Euro kalt kosten, das kann sich doch ein normaler Mensch nicht mehr leisten!“
Zwischen Autobahn (im Bild die Querung des Mittleren Rings über die Pilgersheimer Straße) und Eisenbahn lebt es sich gemütlicher als es aussieht.
Und überall sind nun Architekten. „Hier im Umfeld unseres Büros haben in letzter Zeit drei Kollegen ihre Büros aufgemacht“, sagt Marcus Firmhofer von Firmhofer + Günther Architekten an der Konradinstraße, „dazu kommen noch die Büros der Grafikdesigner“. Er selbst ist unverdächtig, auf einen schnellen Stadtvierteltrend aufspringen zu wollen, da er schon nahezu ein Jahrzehnt in Untergiesing arbeitet. Am Anfang hätte er auf den Straßen noch eine starke Alkohol- und Drogenszene beobachteten können, „das war fast schon eine Problemzone“. Inzwischen sei das fast ganz verschwunden. Das Leben sei aber auch deshalb so angenehm im Schatten von St. Franziskus, da die Ladenstruktur hier noch komplett vorhanden sei: „Momentan ist die Mischung perfekt“, so Firmhofer. Sofern er recht hat, heißt das aber auch, dass es ab sofort bei jeder weiteren Veränderung im Viertel nur noch schlechter werden kann. Der Architekt: „Die Frage ist, wann der Wendepunkt erreicht wird. Wenn hier noch 20 Designbüros aufmachen wie in der Baldestraße im Glockenbachviertel, dann ist es auf jeden Fall zu viel.“ Doch er bleibt vorsichtig optimistisch: „Es wird in Untergiesing nicht so schlimm werden wie im Glockenbach. Um richtig überrannt zu werden, müsste es näher an der Innenstadt liegen und es müsste viel mehr verwertbare Altbausubstanz geben.“
Für Max Heisler hingegen geht die sogenannte Gentrifizierung, also die soziale Umstrukturierung eines Stadtteils zugunsten einer zahlungskräftigeren Klientel, in Untergiesing schon viel zu weit. Der 22-jährige Ethnologie-Student bastelt gerade in einem Wohnblock an der Konradinstraße mit seiner Freundin an Laternen für einen Protestumzug durchs Viertel. Er möchte „Lokalpatriotismus im Sinne von Stadtviertelbewusstsein wecken“. Heisler: „Die meisten Leute sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie all die Veränderungen in ihrem Umfeld erst gar nicht mitbekommen. Für mich war das Maß voll als die Burg Pilgersheim verschwand und dann auch noch mit der neuen Parklizenz überall Parkautomaten aufgestellt wurden. Da hat sich so ein Groll angesammelt.“ Mit ein paar Freunden rückte er in einer Sommernacht zur Protestaktion aus, sie stülpten Plastiktüten über alle Parkautomaten – so entstand die „Aktionsgruppe Untergiesing“. Seitdem hat diese eine Ausstellung organisiert und 1250 Unterschriften an Bürgermeister Monatzeder übergeben, sie soll eine feste Anlaufstelle werden für alle, die in Untergiesing nicht mehr nur stumm den Kopf schütteln wollen. Warum macht er das alles? - „Ich weiß, dass das vielleicht letztendlich nichts bringt. Aber wenn ich eines Tages vielleicht selbst zum Wegziehen gezwungen werden sollte, dann kann ich mir zumindest sagen: Du hast alles versucht...“ Dann sagt Heisler einen Satz, der einem wieder klar macht, dass die Unruhe in Untergiesing mehr sein könnte als ein harmloses Unbehagen: „Außerdem möchte ich es nicht erleben, dass hier doch mal das erste Auto brennt, zum Beispiel dieser schwarze A8, den hier alle kennen.“
Am Hans-Mielich-Platz donnern die Züge über den Bahndamm wie eh und je. Im Ohr klingt noch die leise Stimme der gekündigten Schuhmacherfrau Lanzhammer: „Ich hänge so an dem Viertel. Hier schaut man auf das, was du kannst, nicht auf deine Fehler. Ich würde nirgends woanders arbeiten wollen.“ Tote gibt es gerade keine zu vermelden aus Untergiesing, nur das übliche Geschäft: Die Dönerbude an der Kühbachstraße ist zu einem Kebab-Haus geworden, nebenan entsteht ein Pils-Pub in Pink mit dem Namen „narr – Café, Lounge, Bar“. An der Ecke zur Jamnitzerstraße wird über dem „Pancho“ immer noch um- und ausgebaut, jetzt ist das Dachgeschoss dran. Im Internet bietet die Firma, die die Burg Pilgersheim auslöschte, 115 Quadratmeter Untergiesing für 583000 Euro an - „in kinderfreundlicher und nachbarschaftlicher Umgebung“. Der schwarze Audi ist auch schon wieder da. Die Parkautomaten funktionieren reibungslos. Es ist friedlich in Untergiesing.
Diese Reportage erschien erstmals Ende 2010 in leicht gekürzter Fassung in der Süddeutschen Zeitung. Da die Debatte über Gentrifizierung und Umwandlung insbesondere in Giesing weitergeht, und immer wieder Leser nach dem Text fragten, veröffentlicht der Kulturvollzug den Text nun in voller Länge.