Zum Abriss der Matthäuskirche vor 75 Jahren

Bollwerk Gottes geschleift - Eine teuflische Inszenierung

von Karl Stankiewitz

Der Neubau von 1955 übertrahlt die schmucklose Kreuzung (Foto: Achim Manthey)

Um 15.50 Uhr heulten die Sirenen. Plötzlich krachte es an mehreren Stellen der Altstadt. Feuerstrahlen schossen aus Fenstern und Dachsimsen. Qualm breitete sich aus. Feuerwehrwagen rasten herbei, Bombentrichter wurden durch schwarze Planen gekennzeichnet. Der Reporter der „Münchner Neuesten Nachrichten“ schloss seinen dramatischen Bericht: „Die Häuser der Sendlinger Straße und des Blocks bis zum Oberen Anger wurden als rettungslos verloren angesehen.“ Um 17 Uhr ertönte das Signal: „Das Ganze halt!

Das war kein Ereignis aus dem Bombenkrieg,  das war schon am 27. Juni 1938 geschehen. Es gab den geschockten Münchnern aber einen Vorgeschmack vom kommenden Krieg, es war eine nicht angekündigte Übung. Sie galt, wie anderntags bekannt gegeben wurde, der „Bekämpfung eines durch Fliegerbomben verursachten Großschadens“. Am selben Tag teilte dieselbe Zeitung in einer kleinen Notiz mit: Wegen der Baumaßnahmen in der Sonnenstraße werde dort der Straßenbahnbetrieb für die Dauer einiger Tage eingestellt.

Seltsames Zusammentreffen: Ebenfalls am 28. Juni um 16 Uhr wurde die Vorhalle der evangelischen Matthäuskirche in der Sonnenstraße in die Luft gesprengt. Möglich, dass dies die auf dem Sendlinger-Tor-Platz versammelten Presseleute wegen des Krachens und Qualmens der großen Luftschutzübung nicht wahrnahmen, dass die Bürger die Explosion gar nicht bemerken sollten. Im Rückblick sieht es aus wie eine teuflische Inszenierung der Nazis.

Moderner Eingang an der Westseite (Foto: Achim Manthey)

Immerhin hatte deren Zentralorgan, der „Völkische Beobachter“, Tage zuvor verkündet: „Im Zuge des Neuausbaus der Hauptstadt der Bewegung ergibt sich die Notwendigkeit, die evangelische St.-Matthäus-Kirche in der Sonnenstraße abzutragen.“ Diese Kirche stand aber wohl nicht nur dem von Hitler persönlich geplanten Umbau im Wege, sie sollte vielmehr als ein Bollwerk christlichen Widerstands geschleift werden. Erst am 9. Juni war die Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße „aus städtebaulichen Gründen“ abgerissen worden.

Die Juni-Ereignisse vor 75 Jahren waren ein symbolhafter Generalangriff der braunen Inhaber einer neuen Staatsreligion. Vielleicht auch ein Versuchsballon. „Vermutlich sollte damit die Reaktion der Öffentlichkeit auf diese neue Qualität staatlicher Aggression und Willkür getestet werden,“ heißt es in einer aktuellen Kurzmeldung der amtlichen Rathaus-Umschau. Die evangelische Gemeinde hat die Erinnerung an die Freveltat in ein Gedächtniskonzert einbezogen.

Wieder ging damals ein Kapitel Münchner Kirchengeschichte traurig zu Ende. Ein eigenes Gotteshaus für die Diaspora war zu Anfang des 19. Jahrhunderts nötig geworden, nachdem aus der Pfalz und den neuen fränkischen Landesteilen immer mehr Protestanten in die Hauptstadt des erzkatholischen Landes gekommen waren. Darunter auch die letzte Kurfürstin Caroline.

Erste Entwürfe für die von seinem König Ludwig I. gewünschte „Kathedralkirche“  legte Chefarchitekt Leo Klenze vor. Doch die waren dem Finanzministerium zu teuer, ebenso wie die Mehrzahl der sieben geprüften Standorte. Entschieden wurde daher für einen preiswerteren Plan des Oberbaurats Nepomuk Pertsch und einen billigeren, noch nicht bebauten Platz vor der niedergelegten Stadtmauer. Am 5. August 1827 wurde der Grundstein gelegt. München zählte damals 67.117 Einwohner sowie 58 Brauereien, 189 Bierwirtschaften und 28 Weinhäuser, die alle gut liefen.

Hingegen ging es mit der Matthäuskirche, wie sie dann getauft wurde, wegen Geldknappheit nur schleppend voran. Sie war wohl auch, trotz der 1803 verkündeten Gleichstellung der Konfessionen, nicht allen Herrschaften im Land genehm. Fürchteten die Ultramontanen eine neue lutherische Reformation, so verlangten einige Fortschrittler, wie ein Abgeordneter der Pfalz, „dass von dieser Kirche die mystische und pietistische Zug- und Stickluft und die Seuche der Frömmelei und Schwärmerei ferngehalten werde“.

Der Turm wächst aus dem Grün (Foto: Achim Manthey)

Am 25. August 1833, am „allerhöchsten Geburtstags- und Namenstagsfest Seine Majestät“, konnten die Münchner Bürger lutherischer Konfession nach einem Gottesdienst und „salbungsvollen Reden“ (so die Stadtchronik) gemeinsam ausziehen aus dem ehemaligen Ballsaal der Residenz, den ihnen der tolerante, gerade 53 Jahre alt gewordene König bislang überlassen hatte. Sie zogen hinüber zum Karlsplatz. An dessen Rand wurde unter Glockengeläut und „Absingen einer trefflich componierten Cantate“ die erste evangelische Kirche Münchens feierlich eingeweiht.

Sie sollte die einzige evangelische Bischofskirche Bayerns bleiben. Und sie war höchst beliebt in der rasch wachsenden Münchner Gemeinde. Ihr Inneres stimmte fröhlich: überall Weiß mit Gold, das Deckengemälde gestützt auf Marmorsäulen, ein typisch ludovizianisches Baujuwel. Zum hundertsten Geburtstag wurde es 1933 gründlich renoviert und mit einer prachtvollen Orgel ausgerüstet. Platz war für 3300 Menschen.

Denen aber, die soeben die „Macht ergriffen“ hatten, stand die Kirche im Wege. Räumlich zunächst: Hitler höchstpersönlich wünschte, dass die für seine Wahlheimatstadt geplante U-Bahn zwischen Sendlinger Tor und Odeonsplatz innerstädtisch über einen Bahnhof am Karlsplatz verkehren und dass von dort aus eine „Große Achse“ bis Pasing oder noch weiter geschlagen werden solle. Parkplätze dafür sollten genau dort planiert werden, wo die Matthäuskirche stand. Doch das war gewiss nicht der eigentliche oder einzige Hintergrund.

Jahre zuvor schon hatte sich Landesbischof Hans Meiser der drohenden Entkonfessionalisierung und der – auch von einigen Amtsbrüdern geförderten – Zielsetzung einer „Reichskirche“ auf Hitlers Gnaden aktiv widersetzt. Repressalien und Hausarrest musste das Regime auf massive Proteste von Gläubigen hin zwar zurücknehmen, doch die Bespitzelung der Pfarrer dauerte an. (Der katholische Oberhirte Faulhaber hatte am 23. März 1938 seine Herde aufgerufen, „in weltgeschichtlicher Stunde ein Treuebekenntnis zum Führer und Reichskanzler Hitler abzulegen“.)

Am 10. Juni 1938, einem Freitag, verbreitete sich unter den 15.000 Mitgliedern der Matthäus-Gemeinde wie ein Lauffeuer die Nachricht, es sei beschlossen worden, ihre schöne Kirche sofort niederzureißen. Mehrere Tage und Nächte lang hatte der Bischof noch Verhandlungen geführt, musste sie aber unter Druck abbrechen. Nicht einmal eine Entschädigung konnte Meiser (dem kürzlich wegen angeblicher Nähe zu Nazi-Parolen der Straßenname „entzogen“ wurde) beim befehlsgebenden Gauleiter Adolf Wagner erreichen.

Auch der Stadtbaurat und Generalbaumeister Professor Hermann Alker hat, nach der Erinnerung von Dekan Langenfass, „alles versucht, um diese Freveltat zu verhindern“. Er zog sich den Hass des Gauleiters zu und wurde unverzüglich aus seinen Ämtern entfernt. Sein Mitarbeiter Karl Meitinger in einem Bericht für die Stadtverantwortlichen vom 13. Juni 1938: „Wagner gab den Auftrag, dass heute noch binnen einer halben Stunde mit den Arbeiten begonnen werden müsse. Es fielen dabei auch das Wort Dachau und andere liebenswürdige Ausdrücke.“

Am Sonntagabend füllte sich, während draußen bereits Gerüste angefahren wurden, die akut bedrohte, ganz in schwarz ausgeschlagene Kirche mit einer trauernden, merklich erzürnten Gemeinde. „Sie weinten alle“, berichtete ein Augenzeuge. Sie sangen bis Mitternacht ihre Choräle, gaben sich die Hand, hörten resignierende Abschiedsworte ihres Bischofs Meiser, der vom „Zwang der Verhältnisse“ sprach, und mutigere ihres Pfarrers Friedrich Grießbach: „Da, wo Macht ist und Glanz und Erfolg und Ruhm und Beifall der Massen, muss noch lange nicht Gott sein. Auch das Gottwidrige, auch das Böse hat seine Größe, seinen Erfolg, ja.“

Das Böse kam dann sehr schnell. Schon am 14. Juni rückte ein Trupp von 20 Bauarbeitern an, der sich verzehnfachte. Mesner Emil Schmitt konnte kaum die liturgischen Gegenstände einpacken. „In diesem Augenblick,“ berichtete er später dem Dekanat, „stieg ein solcher Groll in mir auf, dass ich mich fragte, wo sind wir eigentlich, sind wir noch in einem Rechtsstaat?“ Tag und Nacht wurde mit Bagger und Schaufel gearbeitet, um das „Verkehrshindernis“ platt zu machen. Nicht einmal die Glasfenster konnten noch herausgenommen werden.

Am 26. Juni feierte die Gemeinde im Weißen Saal des Augustinerblocks (heute Jagdmuseum) ihren ersten Gottesdienst. Am Vormittag des 28. Juni fand die erste große Luftschutzübung in München statt, jeder war „zur Teilnahme verpflichtet“ und musste sofort einen „Sammelraum“ aufsuchen, so „Volksgasmasken“ verteilt wurden. Am Nachmittag heulten die Sirenen erneut, und diese „Schadensbekämpfungsübung“ war nicht angekündigt.

Im Umfeld des gespielten Kriegsgetümmels konnte das beauftragte Unternehmen für Sprengtechnik die endgültige „Niederlegung mittels Sprengung“ einleiten, ohne groß Aufsehen zu erregen. Am 3. Juni flog auch der schöne Turm in die Luft. Am 6. Juli war die Kirche nur noch ein Trümmerhaufen. Tatsächlich diente das Gelände fortan als Parkplatz.

Das Pfarramt wurde nach dem überstürzten Abbruch evakuierte und von der Gestapo durchsucht, weil anonyme Flugblätter aufgetaucht waren. Ein Gedicht bezog sich auf die verschwundene Schrift über dem Portal: „Das Gotteshaus ließ er in Trümmer brechen / Das Wort sollte nicht mehr die Wahrheit sprechen / Er ließ es noch eigens herunterhauen / Wir werden es trotzdem noch immer erschauen: SEIN WORT IST DIE WAHRHEIT.“  Das gefährliche Gedicht stammte von einem SA-Mann namens Arno Lauer.

Im Weißen Saal des Polizeipräsidiums konnten noch einige Gottesdienste gefeiert werden. Vom Versprechen des Gauleiters Adolf Wagner, eine neue Kirche vom Staat finanzieren zu lassen, wollte dessen Referent nichts mehr wissen. Stattdessen berichteten die „Münchner Neusten Nachrichten“ gleich nach der Bombenbekämpfung noch die Fertigstellung von Görings Luftgaukommandos, gebaut von Professor German Bestelmeyer, dem Präsidenten der Kunstakademie. Dieser erarbeitete auch Neubaupläne für die Matthäuskirche, die zwar nach Besichtigung des Modells „vom Führer gebilligt“, aber nicht mehr ausgeführt wurden. Erst 1955 bekamen die Münchner, jetzt zu 15 Prozent evangelisch, am Sendlinger-Tor-Platz eine neue, bahnbrechend moderne Bischofskirche. Über den Originalplatz brandet bis heute der Verkehr des Altstadtrings.

Zum Jubiläum veranstaltet die Kirchengemeinde jetzt bis in den Juli hinein ein Programm mit Vorträgen, Gottesdiensten und einem Abend voller Erinnerungen im Erzählcafé.

 

Vom Autor stammt das Buch „Der Stachus“, MünchenVerlag, das auch die Geschichte der Matthäuskirche erzählt. Wir hätten Ihnen gern ein Bild des abgerissenen Kirchenbaus gezeigt. Leider hat die Pfarrei St. Matthäus auf unsere diesbezügliche Anfrage gar nicht erst geantwortet.

 

Veröffentlicht am: 26.06.2013

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