Identitätensuche im Guckkasten

von kulturvollzug

"Aufzeichnungen aus dem Reihenhaus". Foto: Hilda Lobinger

Kontrastprogramm in der Halle 7: In zwei sehr unterschiedlichen Stücken - „Aufzeichnungen aus einer Doppelhaushälfte“ von Anna Behringer und „Die Geschichte von St. Magda“ von Johanna Kaptein – gehen die Regisseure Torsten Bischof und Dieter Nelle am Rande der Kultfabrik den Problemen der Integration nach. Angeblich.

Ein Kasten, unterbrochen von einem halbmeterhohen Ausschnitt in Augenhöhe, schirmt die Zuschauer vom Ensemble ab (Ausstattung Kathrin Ehrhardt). Guckkastentheater also, angemessen vor allem dem ersten Stück des Abends, den „Aufzeichnungen aus einer Doppelhaushälfte“, geschrieben von einem unbekannten Autor unter dem Pseudonym Anna Behringer. Der Zuschauer lugt durch den Spalt und wird so zum Voyeur. Er blickt ganz normalen Menschen ins Wohn- und Schlafzimmer, wird Zeuge mehr oder weniger alltäglicher Szenen.  Und muss zurückschrecken: Unter der bürgerlichen Fassade gähnen Abgründe, im besten Falle ein Ennui, der das Schicksal des in der modernen Gesellschaft vereinzelten Menschen zu sein schein; im schlimmeren Falle Gewalt.

Derlei Skepsis dem ganz normalen Menschen gegenüber ist an sich nicht neu; schon in „Les Boulingrins“ von Georges Courteline wurden bürgerliche Abgründe und Gewalttätigkeiten vor über hundert Jahren zum Skandal. Viel Überraschendes weiß auch Regisseur Torsten Bischof dem Thema nicht abzugewinnen; die „Aufzeichnungen“ geraten vielmehr zur Nummernrevue, deren einzelne Episoden von Musik (Zoran Krga) eher ungeschickt getrennt werden. Auch Bischofs Führung der Schauspieler (Birga Ipsen, Andrea Irlbeck, Natascha Jugl, Marten Krebs, Maik Möller, Maike Specht und Nicole Wagner) verleiht dem Ganzen weder Tiefe noch Zusammenhang: Die Figuren sind meistens vollkommen überzeichnet, eine Geschichte mag sich im hektischen Dialog der Karikaturen nicht recht entwickeln.

Stärker und konsequenter, sowohl vom Text her als auch von der Inszenierung, ist die zweite Hälfte. In „Die Geschichte von St. Magda“ von Johanna Kaptein versuchen sieben Akteure eine Rekonstruktion und schlüpfen quasi im Selbstversuch in immer neue Rollen: Wer war dieses Mädchen „St. Magda“? Eine Heilige offenbar, der auf ihrem Weg vor allem Demütigungen und sexuelle Gewalt widerfahren. Und wer ist der junge Mann, der in einer Disco Kontakt zu ihr sucht? Auch er benutzt sie, sieht in ihr den Ersatz für seine Verlobte, die bei einem Unfall starb.

Was ist nur passiert? Szene aus "Die Geschichte von St. Magda". Foto: Hilda Lobinger

Johanna Kapteins Text ähnelt einer Fuge, darin Elfriede Jelineks Wortkatarakten nicht unähnlich, in der sich sieben Stimmen zu einem stimmigen Text- und Geschichtenklang verbinden. Sieben Stimmen, ein Resultat: der junge Mann stürzt, von Magda gestoßen, von einer Klippe. Magda wiederum verschwindet in den Sonnenuntergang blickend – noch als Abwesende beschäftigt sie Phantasie der sieben Erzähler und damit auch der Zuschauer.

Der Guckkasten ist geblieben, Unmengen von Papier lassen eine Unklarheit: Befindet man sich in einem Archiv oder in einem Lokal, dessen Mitarbeiter darauf hoffen, dass die seltsame Heilige den Tourismus ankurbelt? Dieter Nelle lässt seinen Protagonisten – bis auf Judith von Radetzky an Stelle von Marten Krebs dieselben wie in der ersten Hälfte – mehr Luft zum Spielen. Der Musikalität und Vielschichtigkeit dieses Textes kommt das entgegen. Was das Ganze mit "Brennpunkt Integration" zu tun hat? Alles und nichts. Um das Leiden des Einzelnen an der Gesellschaft zu beschreiben, hätten sich sicher auch eine Menge anderer Begriffe finden lassen. Hauptsache, wir haben ein Motto!                  Jan Stöpel

Es empfiehlt sich, beide Stücke hintereinander anzuschauen. Gelegenheit dazu besteht in der Halle 7 (Kultfabrik) noch am 16., 18. und 25. Februar. Heute, 14. Februar,  feiert "Protection" von Anja Hilling in der Regie von Claus Peter Seifert Premiere (ebenfalls 20 Uhr). Karten unter 089-53 29 78 29 oder info@inkunst.de

Veröffentlicht am: 14.02.2011

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