Der Start der Abendzeitung - ein Rückblick aus gegebenem Anlass
Als das Blei floss und Kohle vorhanden war
Die Redaktion 1948 mit Chefredakteur Walter Tschuppik, ganz rechts, sitzend, ist Autor Stankiewitz als 20jähriger Jungredakteur zu sehen. Foto: Karl Stankiewitz
Die Münchner Abendzeitung hat Insolvenz angemeldet. Ob sie noch länger als einige Wochen erscheinen wird, ist ungewiss. Die Zeitungslegende mit trauriger Gegenwart hat früher Maßstäbe im Journalismus gesetzt. Das ist sehr lange her. Karl Stankiewitz war bei der Gründung der Abendzeitung als Jungredakteur dabei. Der heute 85-Jährige hätte wohl nie gedacht, dass er auch einmal das mutmaßliche Ende seiner damaligen Zeitung wird erleben müssen. Hier erinnert er sich noch einmal an die ersten Stunden. (gr.)
Alles an diesem Blatt war improvisiert. Als die Tageszeitung von der Presse-Messe im Ausstellungspark überwechselte ins Haus der Süddeutschen Zeitung an der Sendlinger Straße und am 16. Juni 1948 unter dem Titel "Die Abendzeitung" als erste lizenzierte Tageszeitung ausgerufen wurde, gab es nur wenige Redakteure, keine eigenen Räume und schon gar keinen Arbeitsplan. Die erste, experimentierende Mannschaft hatten Vertraute der US-Military-Controller ziemlich willkürlich zusammengeholt aus den Redaktionen der beiden „Lizenzblätter“, die zwei oder drei Mal in der Woche erschienen. (Nur die amerikanische Neue Zeitung kam schon täglich heraus.)
Wir Volontäre und Jungredakteure saßen zunächst in der politischen Redaktion der SZ und bearbeiteten das Material für die AZ neben unserer normalen Tätigkeit. Bald aber waren wir nur noch, zwar weiterhin bei der „Mutterzeitung“ (zum Mindestgehalt) angestellt, für die AZ zuständig. Für die Außenpolitik fiel das Los auf mich. Obwohl ich, ein 19 Jahre alter Abiturient, mir Weltwissen erst durch Zeitungslesen aneignen musste. Das eigentliche Handwerk hatte ich beim souveränen Ex-Diplomaten Heinz Holldack und bei dessen „Hilfsredakteur“ Wilhelm Saekel gelernt. Im eisigen Winter 1946 hatten die älteren Kollegen im Keller neben der Rotationsmaschine arbeiten müssen, weil die Schreibmaschinen in den ungeheizten Räumen nicht funktionierten.
Auch ich erinnere mich mit gemischten Gefühlen an die – noch lange andauernde – „Bleizeit“. In einem riesigen Saal ratterten unaufhörlich etwa 20 Setzmaschinen, die Zeilen aus flüssigem Blei gossen. Metteure fügten den Satz in sogenannten Schiffen zusammen, andere stellten Buchstaben aus Kästen zu Überschriften zusammen. Die leitenden Redakteure gaben ihre Anweisungen, aber das Sagen hatten letztlich die Metteure, wir Volontäre durften nur zuschauen und gelegentlich irgendwo kürzen.
Bald trennten sich die Interessen der beiden Zeitungen. Die AZ sollte sich als erste eigenständige Boulevardzeitung Nachkriegsdeutschlands behaupten. Schon vier Tage nach Ersterscheinen hatte sie die Feuertaufe zu bestehen: die Währungsreform. Offenbar hungerten die Münchner jetzt, nachdem im Mai noch 10.000 Frauen vor der Feldherrnhalle gegen die Hungerrationen demonstriert hatten, nach neuen, frischen Schlagzeilen. Wir setzten unser „Kopfgeld“ sofort mehr oder weniger sinnvoll um (einer radelte mit dem nagelneuen Fahrrad über den Gang, während ich mir eine bis heute haltbare Lederhose kaufte). Und die Geschäftsleitung war froh, dass endlich Papier in unbeschränkter Menge zu kaufen war.
Was Boulevardjournalismus bedeutete, wusste ich immerhin von Werner Friedmann, der mir bei der Anstellung im Herbst 1947 für den Berufsweg eine Maxime mitgegeben hatte: „Die Themen liegen auf der Straße, man muss sich nur bücken.“ Ähnliche Motivation erfuhr ich durch den SZ-Lokalreporter Sigi Sommer, später als „Blasius der Spaziergänger“ der Liebling aller AZ-Leser: „Schreibst halt jeden Tag a Verserl.“
Das kleine Team bekam bald einen Chefredakteur, der sich als Lehrmeister der alten, der Prager Schule auswies und so manchen, auch mich, beruflich geprägt hat. Er hieß Walter Tschuppik. Friedmann hatte den Emigranten, der vor der Nazizeit sein Chef bei der Süddeutschen Sonntagspost war, aus der Schweiz zurückgeholt. Der alte Herr mit Schnauzbart und Fliege mischte die Münchner Zeitungs-Szene gehörig auf.
Es ging wild, manchmal chaotisch zu in der Anfangszeit der Abendzeitung. Weil diese nicht etwa am Abend, sondern am späten Vormittag auf die Straße kam, mussten wir schon im Morgengrauen zum Dienst antreten. Und weil wir meist bis spät in den Abend hinein arbeiteten, verbrachten wir die Nacht oft auf Zeitungsstößen in der Redaktion, zumal es zuhause keine Kohlen gab. Lokalchef Jochen Slawik, der behauptete, das Wort „Eiserner Vorhang“ erfunden zu haben, animierte seine Mitarbeiter zu Wettbewerben, etwa im Würstlessen. Und Rathaus-Reporter Dieter Stolze veranstaltete ein Turnier im Messerwerfen auf die Bürotür; später bekam Stolze als „Mercator“ eine Wirtschaftskolumne, noch später wurde er Bonner Pressechef.
Auch an einige andere Reporterkollegen der ersten und zweiten Stunde erinnere ich mich gern. Etwa an meine früheren Klassen- und Schulzeitungskameraden Helmuth Guthmann, der aus Gericht und Landtag berichtete, und Kurt Geßl, der später das Magazin „Eltern“ betreute. Oder an Ingeborg Münzing, die den ersten Reiseteil aufbaute und mit einer AZ-Serie die bis heute anhaltende Welle der Gesundheitsbücher lostrat. An den Lokalchef Gerd Thumser, der als Ludwig-Thoma-Biograf und Simplicissimus-Experte etliche Bücher und Ausstellungen produziert hat. An Hannes Obermaier, der im Oktober 1952 als „Hunter“ seine Treibjagd in der Society begann. An Klaus Budzinski, der auf die eher geistige Elite angesetzt war. Die drei Letztgenannten haben Bücher geschrieben über ihre frühen AZ-Erfahrungen.
Im August 1948 übernahm ich die Dritte Seite. Die Zeitung hatte damals noch keine Korrespondenten und erst recht keinen Reporter für Sonderaufträge. So musste ich interessante Themen meist aus dem Archiv, aus fremden Zeitungen und aus dem damals schon reichlichen Agenturmaterial (außer "dena" gab es "südena" und "dpd") zu „Features“ formulieren, wie man die lesbare Aufbereitung von Fremdmaterial nannte. Auch musste ich zu meinem Leidwesen oft lange, langweilige Riemen (etwa über die Abwertung des Franken), die Tschuppik meist aus Schweizer Zeitungen herausgeschnitten hatte, auf „meine“ Seite stellen.
Ansonsten ließ uns der Boss des Boulevards alle Freiheit. Allmählich zogen wir selbst los auf „große Reportage“. Es war nicht immer angenehm. Einen Tag und eine Nacht verbrachte ich vor der Villa des sterbenden Richard Strauß in Garmisch, um endlich für „Fräulein Federschmidt“, wie sie sich nennen ließ, als Erster über den Tod des Komponisten berichten zu können. Als die Berliner Blockade aufgehoben wurde, fuhr ich mit dem ersten Zug in die Zone, besuchte in Berlin die „verbotene Stadt“ Karlshorst, das Spandauer Kriegsverbrechergefängnis, den Menschenrechtler Hildebrandt und eine gewöhnliche Familie in Pankow. Ich verfolgte die Spur von Nazis, die mit Hilfe aus demVatikan nach Südamerika geschmuggelt wurden, berichtete von einem Menschenfresser-Prozess in Bremen und verbrachte mehrere Tage und Nächte bei dem damals nur regional bekannten Bruno Gröning in Herford.
Als ich diesen „Wunderdoktor“ am Tag seines Umzugs nach München interviewt und die Auflage erstmals die 100.000-Marke übersprungen hatte, komponierte Walter Tschuppik einen „Abendzeitungs-Marsch“, den er uns jeden Morgen am Klavier vortrug. Eine weitere originelle Leistung des Chefredakteurs war die sogenannte „Halt-Meldung“: Im Blatt wurde jeden Tag ein großer Platz freigehalten für die letzte Meldung; die musste jeweils ein Volontär mit einer Adressiermaschine auf eine Blechplatte stanzen, die dann einfach auf die halbrunde Druckvorlage geklebt wurde. Im übrigen wurden wir alle gelegentlich fristlos entlassen - und am nächsten Morgen wieder eingestellt. Unordnung und frühes Leid.
Etwas systematischer wurde es, als ein eigener Nachrichtenredakteur, der bisherige Archivmann Heribert Kühn, eingestellt wurde. Der Urberliner sortierte sämtliches Material während der Nacht. Das schaffte er nur durch den Konsum ungeheurer Mengen Kaffee, so dass er später eine regelrechte Koffein-Entziehungskur machen musste und bald starb. Noch bevor er den Nachtdienst übernahm, halfen wir jungen Redakteure im Schichtdienst, immer zusammen mit einem Mitglied der sogenannten Lehrredaktion (aus der das Werner-Friedmann-Institut hervorgegangen ist und daraus wiederum die Deutsche Journalistenschule): Am Morgen musste sämtlichen leitenden Redakteuren im Haus, also auch der SZ, ein „Monitor“ mit den fein aufgegliederten Themen des anbrechenden Tages vorliegen. Ich weiß nicht, ob das von irgendeinem Nutzen war; aber es war eine gute Übung.
Während wir jüngeren Schreiber und redaktionellen Umschreiber nebenher gern allerlei Possen trieben, entspannte sich der betagtere Chefredakteur lieber beim Schachspiel mit dem seriösen Nachrichtenredakteur Hans Burggraf. Über Tschuppik gäbe es eine Menge Anekdoten zu erzählen; ich will mich beschränken: Pfingsten schlug die feinsinnige Feuilletonchefin und Redaktions-Seniorin Dorothea Federschmidt vor: „Wollen wir zum Fest nicht mal was Grünes bringen? “ Tschuppik brummte in seinem breitem Böhmisch: “Gut, bringen Se mir a Wasserleich.“
Wir verdienten das Brot der frühen Jahre natürlich nicht nur mit kleiner und großer Politik, sondern versuchten uns auch schon an flotteren Themen. So „featurte“ ich eine Geschichte aus einem französischen Blatt über die aufkommende Marotte des Nacktbadens an der Cote d’Azur („Nudisme Nocturne“). Dazu kopierten wir auch das ziemlich freie Bild und kolportieren erstmals den da aufgelesenen Begriff “Bikini“ (nach dem Atombombenatoll im Pazifik). Unsere kleine Sommerstory erregte viel Aufsehen, aber auch Anstoß. Die tägliche Nackte konnte erst viel später auftauchen.
Tschuppik, dessen kürzeste Schlagzeile „Das Atom“ lautete, ließ dann keine hübschen Mädchen mehr ins Blatt rücken. Er war gerade aus Übersee zurück, schrieb eine Serie „Mein Spazierstock und Amerika“ und erwiderte angewidert, wenn wir ihm ein Pin-up-Foto vorlegten, mit Blick auf den Busen: „Alles nur Draht, wie ich mich selbst überzeugen konnte.“
Immer öfter ließ er sich zu fragwürdigen Schlagzeilen hinreißen. Einmal titelte er mit Riesenlettern: „Rücktritt des bayerischen Kabinetts“; in viel kleinerer Schrift las man darüber: „Ein Abgeordneter fordert:“ In ähnlichem Aufmacherstil zettelte er einmal einen „Krieg gegen Tito“ an. Von seiner Art Außenpolitik hielt er überhaupt große Stücke. „Da wird sich der Stalin am Arsch kratzen“, meinte er nach einem Frontalangriff auf den Diktator.
Nicht zuletzt wegen derlei Sensationsmache kam es immer öfter zu Auseinandersetzung zwischen Friedmann und Tschuppik Sie endeten damit, dass unser gern aufbrausender Chefredakteur seinem ehemaligen Schüler, der nun immerhin sein Arbeitgeber war, vor Mitarbeitern eine Watschen androhte. Etliche Redakteure solidarisierten sich mit dem grollenden Tschuppik und verließen die Abendzeitung. Der Journalist der alten und inzwischen wohl altmodisch gewordenen Schule emigrierte ein zweites Mal, zusammen mit seiner Frau ging er nach Wien. Irgendwie war durch den Streit die Atmosphäre vergiftet. Mir fiel der Abschied von der Abendzeitung, die mir fast zum Zuhause geworden war, umso leichter, als mich Stern-Chef Henri Nannen für eine Recherche über die organisierte Nazi-Flucht nach Hamburg holte.