Zur Hagelkatastrophe vor 30 Jahren

Münchner Sommernachtsalbtraum - die Eisbomben von 1984

von Karl Stankiewitz

Der Hagel lag wadenhoch auf den Straßen und schmolz zu grauer Suppe. Foto: Isabel Winklbauer

Der Himmel des 12. Juli 1984 strahlt über Bayerns Hauptstad so blau und so klar wie in den ungewöhnlich warmen Tagen zuvor. Satellitenaufnahmen zeigen bis 17 Uhr keinerlei Wolkenbildung, danach aber ein plötzliches Hochschießen zweier Gewittersysteme über dem Bodensee. Eines davon bildet bereits Hagel und bewegt sich – fast schon wie 40 Jahre zuvor die alliierten Bomber-Schwärme - über den Ammersee nach München. Karl Stankiewitz erinnert sich.

In der gewitterträchtigen Voralpenlandschaft ist Hagelschlag kein ungewöhnliches Phänomen. Ungefähr alle fünf Jahre ist damit in München zu rechnen. Am 15. Juni 1761 sollen, so die Chronik, bei einem „förchterlichen Hagelsturz“ pfundschwere Körner niedergegangen sein. Und am 31. September 1936 wurde das Stadtgebiet in voller Breite von einer verheerenden Hagelwalze zugeschüttet. Solch Unheil kommt in der Regel aus heiterem Himmel.

Als das Gewitter an jenem Juli-Donnerstag gegen 20 Uhr den Stadtrand erreicht, stößt es auf eine Luftmasse, die sich tagsüber auf fast 30 Grad erwärmt hat. Erst durch diesen Zusammenprall bilden sich Aufwinde in Orkanstärke. Sie lassen Hagelkörper von fünf bis sechs Zentimeter Durchmesser entstehen. Glaubhaft wird sogar von einem Hagelkorn mit 14 cm Durchmesser und einem Gewicht von 800 Gramm berichtet.

Mit ungeheurer Wucht, mit bis zu 150 Stundenkilometern, schlagen die weißen Klumpen besonders in den östlichen Stadtbezirken auf Menschen, Tiere, Gebäude, Fahrzeuge nieder. Etwa 400 Personen werden von den faustgroßen Körnern leicht oder schwer verletzt. Es grenze geradezu an ein Wunder, heißt es in einer späteren Studie der Münchner Rückversicherung, dass bei den vielen Menschen in Parks und Biergärten keine Todesopfer zu beklagen waren. Allerdings sterben mehrere Menschen vor Aufregung und später bei Reparaturarbeiten. Der Verkehr bricht völlig zusammen. Feuerwehr, Polizei, Bundeswehr und freiwillige Hilfsdienste arbeiten bis zur Erschöpfung.

In Planegg bahnten sich Autos den Weg durch körnerbedeckte, überschwemmte Straßen. Foto: Isabel Winklbauer

Eine Woche nach der Katastrophe windet sich eine Schlange getroffener Autos vor der Bayerischen Versicherungskammer im Lehel um drei Straßenecken und blockiert eine verkehrswichtige Fahrspur. Das ganze Ausmaß der Schäden wird erst Tage später erkennbar: An etwa 240.000 im Freien geparkten oder ausgestellten Autos werden nicht nur Dellen, sondern oft regelrechte Kraterflächen festgestellt, die Reparaturkosten reichen von 100 bis über 20.000 Mark. Beschädigt wurden auch 24 Verkehrsflugzeuge, 17 Firmenflieger und über 150 Sport- und Geschäftsreisemaschinen auf den umliegenden Flughäfen. Allein die Reparatur einer getroffenen Boeing wurde auf 20 Millionen Mark geschätzt. Auf etwa 70.000 Gebäuden wurden Dächer, Fenster, Jalousien, Fassadenverkleidungen, Reklameschilder und alles, was nicht absolut schlagfest war, zerfetzt oder vom Sturm abgerissen. Noch schlechter kamen die Gewächshäuser und Freilandkulturen davon. In Stadtnähe wurden landwirtschaftliche Flächen völlig niedergewalzt, Bäume abgerissen oder entlaubt; in den Wäldern liegen die abgeschlagenen Jahrestriebe der Nadelhölzer als knöcheltiefer grüner Teppich.

Die Begutachtung der Autoschäden dauert bis Ende August, dafür müssen zusätzliche Prüfer aus ganz Bayern und Baden-Württemberg herangeholt werden. Wer sein Fahrzeug nicht mehr für die angebotene Versicherungssumme reparieren lassen will, muss es billig verkaufen. Viele stecken das Geld ein und lassen die Beulen. Manche spekulieren auch darauf, dass Autos mit Münchner Hagelschäden noch einmal einen gewissen Raritätswert bekämen. Tatsächlich tauchen bald schon Anzeigen auf: „Kaufe Hagelschäden.“

Nach Abschluss aller Zahlungen stellt sich der Münchner Sommernachtsalbtraum als der größte Hagelschaden in der deutschen Versicherungsgeschichte heraus: Der versicherte Schaden wird auf 1,5 Milliarden, der gesamte Schaden auf über drei Milliarden Mark beziffert. Für viele Betroffene hätte der „Jahrhunderthagel“ den wirtschaftlichen Ruin bedeutet, wenn sie nicht versichert gewesen wären.

Veröffentlicht am: 12.07.2014

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