Karl Stankiewitz schaut zurück auf 50 Jahre Olympische Spiele in München, Teil III

Begrüntes Bergland aus Beton

von Karl Stankiewitz

Olympiapark und Olympiadorf. Foto: Thomas Stankiewicz

Bizarr und felsartig gestaffelt wie die Gebirgslandschaft Oberbayerns hebt sich die Kulisse der Rohbauten des Olympischen Dorfs äußerlich vollständig und äußerst eindrucksvoll ab vom olympischen Bauplatz am Oberwiesenfeld. „Richtungweisend für den Städtebau der Zukunft“ soll sich das Doppeldorf seinen temporären Gästen, den späteren Dauermietern und künftigen Besuchern präsentieren.

Von der Appartementwohnung im dreistöckigen Wohnblock bis zum zweigeschossigen Penthouse, vom Luxusbungalow bis zur Vier-Zimmer-Wohnung im 24. Hochgeschoß ist jede Wohnform vertreten, wobei die Terrassenbauweise mit ihrer intensiven Bepflanzungskonzeption der Anlage den besonderen Akzent gibt. Der Architekt Erwin Heinle hat mit seinem Konzept einer Wohnstadt die Verbindung von Parklandschaft mit urbaner Dichte angestrebt. Fußgänger- und Fahrverkehr sind konsequent vertikal getrennt durch Anordnung in verschiedenen Ebenen. Das sogenannte Drive-in-Haus ermöglicht es dem Bewohner, unmittelbar von seiner Wohnung per Lift in die unterirdische Parkebene zu fahren.

Studentendorf. Foto Thomas Stankiewicz

Die Fußgängerstraßen sind keine nüchternen Verbindungswege, sie sollen vielmehr durch künstlerische Gestaltung zu einem „Erlebnisraum“ werden. Rampen, Treppen, Brücken und Terrassen sollen den Eindruck vermitteln, dass sich die Parklandschaft in den einzelnen Ebenen übereinander bis in die höchsten Ebenen fortsetzt: ein begrüntes Bergland, gebaut aus Betonfertigteilen. Auch die Musterwohnungen, die Anfang 1972 schon besichtigt werden können, lassen ein neues, urbanes Lebensgefühl aufkommen. Möbel und Wände der Einraumwohnung wechseln in Schwarz und Weiß. Viel Kunststoff wurde verwendet, viel Platz gespart durch raffinierte Anordnungen (zum Beispiel neuntürige Schrankwände, Esstische mit abklappbaren Platten, „Hygiene-Zellen“). In der größeren Musterwohnung, deren Wände mit Blütenstoff bespannt sind, ist der Wohnraum durch eine herausnehmbare Wand für die intensivere Nutzung während der Spiele zweigeteilt. Die nähere Umgebung macht das Dorf vollends zu einem Wohnparadies. Angeschlossen an ein Schnellstraßen-, U- und S-Bahn-System, fünf Kilometer von der City Münchens entfernt, findet der Bewohner vor der Haustür die schönsten Sportanlagen der Welt, Spielwiesen und künstliche Hügel, künstliche Seen mit Booten, Boccia- und Rollschuhbahnen, Restaurants, ein Hallenbad und eine Eissporthalle, ein Vergnügungszentrum mit Theater, Kino und ein Ärztezentrum, das neben Allgemeinpraxen die wichtigsten fachärztlichen Disziplinen samt Isotopenlabor aufnehmen soll. Ganz groß geschrieben wird der Umweltschutz. Durch die Trennung von Wohn-, Spazier-, Fahr- und Vergnügungsbereichen sollen keinerlei Lärmprobleme auftreten. Europas modernste Müllbeseitigungsanlage vermag 47.000 Kubikmeter Abfall pro Jahr pneumatisch wegzuräumen. Auch sollen pro Jahr 32 Millionen Kubikmeter schlechte Luft aus Gebäuden und Tunnelstraßen abgesaugt werden.

Nachdem sich durch den langen Winter ein gewisser Terminverzug ergeben hatte, konnten die Wohnbauunternehmen unter Federführung der DEBA mit ihren 1450 Arbeitern das Tempo nun derart steigern, dass die Wohnungen im Olympiadorf der Männer (geschätzte Baukosten: 250 Millionen DM) früher als geplant, nämlich ab Oktober 1971, dem Organisationskomitee (OK) übergeben werden. Nicht nur aus dem ganzen Bundesgebiet, sondern bis aus Amerika haben sich Kaufinteressenten gemeldet. Im Olympiadorf der Frauen, das vom Münchner Studentenwerk gebaut und getragen wird, konnten die fertigen Bungalows bereits an 900 Studenten übergeben werden. „Man kommt sich hier fast vor wie in den Ferien“, sagt einer der ersten Mieter, ein Zahnmediziner aus Ulm. Die weißen, kubischen Häuser stehen so dicht beieinander wie in einem Dorf am Mittelmeer; sie lassen, da jede der zweistöckigen Wohneinheiten einen breiten Balkon hat, dennoch viel Luft und Sonne herein und ermöglichen Kommunikation von Haus zu Haus. Bei 111 DM Monatsmiete für über 20 Quadratmeter einschließlich Strom und Heizung nehmen die Studenten auch ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf: Anfangs funktionierte die Heizung nicht, die Betten sind sehr schmal und folglich nicht ganz „sturmfrei“, und aufs Fernsehen müssen die jungen Leute vorerst auch verzichten. Das Hauptproblem für die Olympiastudenten aber ist, dass sie spätestens zum 1. März 1972 wieder aus dem Wohnparadies vertrieben werden. Dann müssen die Appartements, die das Studentenwerk „trotz des Risikos einer unsachgemäßen Nutzung“ vorübergehend vergeben hatte, für die Sportlerinnen renoviert werden. Bis dahin wird auch entschieden sein, ob zwischen dem Männer- und dem Frauendorf ein hoher Maschendraht errichtet werden soll — wie es bei allen bisherigen olympischen Dörfern Usus gewesen ist. Dorfbürgermeister Walther Tröger will diese Tradition trotz mancher Bedenken und Proteste aufrechterhalten. Viele Sportlerinnen seien nicht einmal 16 Jahre alt, begründet er, und vor allem die Mädchen aus den arabischen und lateinamerikanischen Ländern müssten vor Belästigungen geschützt werden. Doch auf den Juristen Tröger warten noch andere Probleme. Sie betreffen vor allem die kulturelle und die gastronomische Betreuung sowie die Unterhaltung der abgekämpften Athleten.

Biergarten im Olympiapark. Foto: Thomas Stankiewicz

Eine spätere Volksschule und eine Kindertagesstätte des Dorfes sollen während der olympischen Wochen zum Vergnügungszentrum werden. Ein Dancing-Room mit kleiner Bar, der „Bavaria Club“, wird die Sportler täglich zum Tanz erwarten. Nachmittags wird sie ein Disc-Jockey und abends die Hazy-Osterwald-Band unterhalten. Zahlreiche Tischtennis- und fünf Fernsehräume, zwei Säle mit Tischfußball und anderen Sport-Spielautomaten sowie ein Erfrischungs- und Aufenthaltsraum sind im Untergeschoß geplant. Hier wird auch ein Kino mit 200 Plätzen eingerichtet. Nach den Spielen wird es tagsüber zu einem Schulkino, abends soll es als kommunales Lichtspielhaus der Bevölkerung dieses neuen Stadtteils dienen. Etwa 200 Plätze erhält auch ein Theater, das im Turnhallenbereich der Schule errichtet wird. Hier können die Sportler selbst mit Folklore aus ihrer Heimat auftreten. Selbstverständlich gibt es auch Lese- und Schallplattenräume mit aktuellen Angeboten aus aller Welt. Weiträumige Terrassen werden die beiden Gebäudekomplexe mit ausgedehnten Grünanlagen verbinden. Auch ein Minigolfkurs wird dort angelegt. Im Verpflegungszentrum des Dorfes wird indes eine der modernsten und größten Küchen der Welt eingerichtet und von der Kempinski-Hotelbetriebs AG betreut werden. Da 2700 Sitzplätze vorhanden sind, werden die Sportler in fünf Schichten, von 6 Uhr morgens bis 2 Uhr nachts, zu Tisch gebeten. Der Küchenzettel liegt schon für jeden einzelnen Tag fest, auch die Gesamtmengen der besonders eiweiß- und vitaminreichen Lebensmittel sind bekannt. So werden allein 1,1 Millionen Eier, 23.500 Bananen, Melonen und Grapefruits sowie 106.700 Liter Orangensaft angeboten. Um alle diese Aufgaben zu bewältigen, wird dem Dorfbürgermeister Tröger ein ganzer Stab erfahrener Mitarbeiter zur Seite gestellt werden. Insgesamt sollen 5500 Hilfskräfte, Küchenpersonal, Fahrer, Ordner, Hostessen, Masseure und rund 150 Verwaltungsfachleute rund um die Uhr bemüht sein, den Sportlerinnen und Sportlern den kurzen Aufenthalt im olympischen Dorf der schönen Stadt München so angenehm wie möglich zu gestalten.

Das Olympische Dorf wird bald nach Einzug der Athleten und in den folgenden 50 Jahren noch viele Probleme bereiten, wobei das Eindringen von arabischen Terroristen über den Zaun das weitaus schlimmste war. Inzwischen ist es wieder so bunt und international geworden wie während der Spiele, meldet der regelmäßig erscheinende „Dorfbote“. Gegenwärtig sind in den unter Denkmalschutz stehenden Terrassenhäusern sowie in den Bungalows des Studentendorfes insgesamt 7381 Personen polizeilich gemeldet. Nur eine knappe Mehrheit hat die deutsche Staatsangehörigkeit, 3151 Dorfbewohner sind Ausländer, überwiegend Chinesen und Türken. Für Mitte Mai 2022 bereiten Dorfbewohner ein großes Jubiläumsfest vor. Eine Genossenschaft namens Olywelt e.G. wurde kürzlich mit dem Ziel gegründet, Wohnqualität und Nahversorgung des Olympiadorfs zu erhalten und zu verbessern.

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„50 Jahre Olympiapark – Impulse für Münchens Zukunft“ – so lautet der Titel der aktuellen Jahresausstellung des Referats für Stadtplanung und Bauordnung. Sie ist Teil des Jubiläumsprogramms der Stadt zum 50-jährigen Jubiläum der Olympischen Spiele „München auf dem Weg in die Zukunft 1972–2022–2072“. Im Zentrum der Ausstellung stehen der Olympiapark und seine Bauten. Zu sehen sind Modelle und Originalexponate. Die Ausstellung spannt einen weiten Bogen von 1972 bis zum Stadtentwicklungsplan 2040. Es gibt zahlreiche Veröffentlichungen zum Mitnehmen, ein abwechslungsreiches Programm lädt zur Diskussion ein. Die Ausstellung ist bis 11. März 2022 täglich von 13 bis 19 Uhr in der Rathausgalerie zu sehen. Informationen unter muenchen.de/olympiapark50.

Aktuell gibt es im Zuge der Ausstellung eine besondere Mitmach-Aktion für Kinder, Jugendliche und Familien: In der Rathausgalerie am Marienplatz liegen zwei verschiedene „Bauboxen“ zum Mitnehmen aus, mit denen Visionen für München entwickelt werden können. Pro Person/Familie wird eine Baubox ausgegeben. Das Angebot ist kostenlos – solange der Vorrat reicht.

Veröffentlicht am: 05.02.2022

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