Mach die Augen zu

von Michael Grill

Gesehen, jawoll,  im Olympiastadion. "Die Ärzte" auf erster richtiger Stadiontour, um nach Corona etc. den Rückstau an Publikumsbedürfnis abzuarbeiten. Das buchstäbliche weite Rund war allerdings trotz der raumgreifend und leerstellenüberdeckend quer zur Haupttribüne gestellten Bühne wahrlich nicht voll beziehungweise "nur" mit rund 20.000 zahlenden Gästen befüllt. Dennoch ein respektables Ergebnis für eine einst vor allem mit anarchistischem Humor ausgestattete Spaßcombo, die seit unfassbar langen 40 Jahren fast durchgängig einer der erfolgreichtsten, kreativsten und doppelbödigsten deutschsprachigen Acts überhaupt ist. Der Auftritt war eine über weite Strecken souveräne und spielfreudige Vorstellung mit allem was der Fan so braucht ("Friedenspanzer", "Mach die Augen zu", "Schunder-Song", "Zu Spät"...). Es war allerdings nicht das,  was die Band vor gut einem halben Jahr mit der Tour-Ankündigung wörtlich versprochen hatte: "Endlich wieder fragwürdigen Ansagen lauschen." Es war lustig, aber mit gebremstem Schaum. Das kann man in Zeiten, in denen jedes Wort solange auf die Goldwaage gelegt wird bis ein Ismus dabei herauskommt, vielleicht als vernünftig bezeichnen, sofern man die Karriere nicht vorzeitig beenden will. Ja, nun... Die meisten Rezensenten haben ohnehin zu berichten, dass die Ärzte ihren Fans "einfach gute Musik" zu "verschreiben" wüssten. Auch dass die Band sämtliche Songs aus der Frühzeit der Band, die damals tatsächlich auf dem Index standen und somit - und erst recht in der Rückschau - maximale Provokation waren und vielleicht noch wären ("Claudia", "Geschwisterliebe", "Helmut K.", "Schlaflied") bis zur Unkenntlichkeit entschärfte und lediglich kurz angeriss, muss wohl so sein. Die genannten Stücke wurden in eine auf dem Song "Elektrobier" basierende 80er-Jahre Karikatur verpackt, optisch "Kraftwerk", akustisch "DAF", damit radikal musealisiert und wie in einem gläsernen Giftschaft kurz und gefahrlos vorgezeigt. Kann man so machen. Wir kommentieren das an dieser Stelle nicht, wahrscheinlich aus den gleichen Gründen, aus denen die Ärzte den Kunstgriff vollzogen. Irgendwie beängstigend. Aber sind wir nicht alle ein bisschen feige mittlerweile?   gr. / Foto: Michael Grill

 

Veröffentlicht am: 23.06.2022

Über den Autor

Michael Grill

Redakteur, Gründer

Michael Grill ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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