Andrej Kurkow über sein neues Buch und die russische Seele: "Lieber Putin als den russischen Kollaps" - heute Lesung

von Isabel Winklbauer

Der Autor Andrej Kurkow (Foto: privat/Haymon Verlag)

Der ukrainische Autor Andrej Kurkow (50), berühmt durch den Pinguin-Roman "Picknick auf dem Eis", erforscht seit Jahrzehnten die Mentatlität der Russen. Sein neues Buch "Der wahrhaftige Volkskontrolleur" ist noch surrealistischer und ironischer als alle Vorgänger und beschreibt die fantastischen Geschicke eines Bauern, eines Engels und eines Träumers in der alten Sowjetunion. Aus Anlass einer Lesung in München führte der Kulturvollzug im Vorfeld mit ihm ein Interview per E-Mail.

Herr Kurkow, Sie sind in St. Petersburg geboren, Ihr Lieblingsthema ist aber die Ukraine, wo Ihre Familie später hinzog. Wie lief das in Ihrer Kindheit?

Ich war zwei, als meine Eltern nach Kiew umzogen. Mein Vater war bis dahin Militärpilot. Nach der Kubakrise hatte Nikita Chruschtschow dem Westen aber eine Abrüstung versprochen, um zu zeigen, dass die UdSSR ein friedliches Land ist. Mein Vater wurde entlassen, so wie 100.000 weitere Offiziere. Also zogen wir zu seiner Mutter, meiner Großmutter, nach Kiew. Dort wurde mein Vater schließlich Testpilot bei den Antonov Flugzeugwerken.

Sie wohnen immer noch in Kiew. Aber fühlen Sie sich als Russe, Sowjet oder Ukrainer?

Da ich zu Sowjetzeiten aufwuchs, war ist nun mal zuerst Sowjet und Russe. Erst seit 1991 bin ich ukrainischer Staatsbürger, mit russischen Wurzeln. Auch meine Muttersprache ist Russisch. Was problematisch ist, denn die einzige offizielle Sprache in der Ukraine ist Ukrainisch ...

Ihr neues Buch "Der wahrhaftige Volkskontrolleur" spielt vor dem zweiten Weltkrieg, natürlich in der Sowjetunion. Ein simpler Bauer wird zum Staatsspitzel ernannt und erlebt in Jakutien wundersame Dinge. Was fasziniert Sie an dieser frühen Ära der UdSSR?

Es ist nicht so sehr die Zeit, es ist die sowjetische Mentalität, die mich fasziniert. Der Roman ist nur der erste Teil einer Trilogie, die die Geschichte dieser Mentalität einfängt. Der "Volkskontrolleur" beginnt in der 1920er Jahren, der letzte Band, in dem dieselben Figuren vorkommen, endet 1974. Das ganze ist aber kein historischer Roman. Ich beschreibe nur, was in den Köpfen vor sich geht.

Im "Volkskontrolleur" gibt es auch einen Engel, der feststellen muss, dass noch nie ein Sowjetbürger ins Paradies eingegangen ist, und der darauf hin eine Schar von Anhängern ins gelobte Land führt. Ist das ein Traum vom idealen Kommunismus, der vielleicht doch noch eine Chance verdient?

Traum ja, aber nicht meiner. Ich kenne viele ältere Leute, die an den Kommunismus glauben und nach wie vor fest überzeugt sind, dass er einzig durch Korruption zerstört wurde, statt an der Realität und der menschlichen Natur gescheitert zu sein. Kommunismus ist tot. Er war ein schönes Märchen für kindlich-naive Erwachsene.

Ihre Bücher spielen immer in einer Welt, in der auf Regeln kein Verlass ist. Alles kann passieren, deshalb passieren die verrücktesten Dinge. Ist das ein literarischer Kunstgriff für mehr Autorenfreiheit - oder handeln Sie nur nach dem Vorbild der Realität, die ja immer unglaublicher ist als die Fantasie?

Alle Geschehnisse in meinen Romanen haben die Realität als Vorbild oder sind von der Realität inspiriert! Darüber hinaus sehe ich es aber auch als einen wichtigen Teil meiner dichterischen Freiheit, meine Fantasie nicht von irgendwelchen Regeln des Realismus behindern zu lassen.

Ihr Buch "Die letzte Geliebte des Präsidenten" von 2006 spielt in einer Zukunft, in der Putin zum zweiten Mal regiert. Damals Fantasterei. Was sagen Sie nun zu Putins Erklärung, tatsächlich noch mal antreten zu wollen?

Russland ist seltsam. Zu groß, um demokratisch zu sein, zu wild, um friedlich zu sein und zu stolz, um still und nett zu sein. Putin ist doch nichts als ein Zar mit globalen Plänen und Ambitionen. Es kommt mir vor wie eine schwarze Komödie, was da gerade passiert. Aber: Eines Tages wird auch er müde und sein Machtgefüge bricht zusammen. Und mit diesem Machtgefüge vielleicht das ganze Land. So ein Kollaps könnte Europa gefährlicher werden als ein lebenslang regierender Putin.

Hatten Sie schon mal Ärger mit den ukrainischen Behörden wegen Ihrer Bücher? Oder erwarten Sie jetzt Ärger, da auf die westlich orientierte Regierung von Julia Timoschenko wieder reaktionäre Kräfte die Macht in Kiew übernommen haben?

Vor der Orangenen Revolution (die 2004 in der Ukraine eine europafreundliche Regierung an die Macht brachte, Anm. d. Red.) hatte ich viel Ärger. Mich sprachen oft Parlamentsabgeordnete und Politiker an, weil es ihnen nicht passte, wie ich über die Ukrainische Politik und die Realitäten schrieb. Mit einem neuerlichen Wechsel zu den Konservativen fühle ich mich also nicht besonders sicher. Da meine Lage aber besser ist als vor 2004, denke ich nicht allzu viel darüber nach.

Wollen Sie für immer in Kiew bleiben oder ziehen Sie vielleicht doch ganz nach London, wo Sie schon eine Zweitwohnung haben?

Ich bleibe lieber in Kiew. Da ist es nicht nur schöner, sondern auch interessanter für einen Schriftsteller. Falls es blutig wird, stehen natürlich die Koffer bereit, um an einen sichereren Ort zu ziehen. Vor allem, da meine Frau und ich drei kleine Kinder haben.

Sie schrieben einmal, wenn Sie in Deutschland auf Lesereise sind, fühlten Sie sich von Don-Kosaken-Chören verfolgt. Was können wir Europäer besser machen, um die ukrainische und russische Kultur besser kennen zu lernen?

Um den russischen Geist zu verstehen - und der ist für mich gleichbedeutende mit dem ewigen russischen Chaos - sollte man Vladimir Sorokins Bücher lesen, auch wenn sie nicht so einfach sind. Was die Ukraine betrifft: Der Unterschied zwischen Europäern und Ukrainern ist gar nicht so groß. Schon Gogol hat alles über Ukrainer geschrieben. Am besten ist es, einfach selbst hinzufahren und das Land anzuschauen. Es sind nur zwei Flugstunden.

Andrej Kurkow, "Der wahrhaftige Volkskontrolleur", Haymon Verlag, 22,90 Euro

Am 15. November 2011, 20 Uhr, liest Andrej Kurkow in der Buchhandlung Lentner (Balanstraße 14) in München, aus seinem neuen Buch.

Veröffentlicht am: 15.11.2011

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

Weitere Artikel von Isabel Winklbauer:
Andere Artikel aus der Kategorie