„Escalier du Chant“ - Olaf Nicolai in der Pinakothek der Moderne
Man kennt diesen Moment peinlicher Ergriffenheit, wenn plötzlich im öffentlichen Raum, mitten in einer anonymen Menschenmenge, laut eine Stimme ertönt: Der normale Wahnsinn im Zeitalter des Mobiltelefons. Diese Irritation lieferte die Grundidee für Olaf Nicolais jüngste Arbeit „Escalier du Chant“, eine Klang-Performance die er für die Pinakothek der Moderne entwickelt hat.
Es gibt dort diese gewaltige Treppe, auf die seit 2002 bereits zwei Münchner (Olaf Metzel und Benjamin Bergmann) mit temporären Kunstwerken reagierten. Jetzt konterkariert der Berliner Olaf Nicolai (geboren 1962 in Halle/Saale) diesen „exzentrischen Raum“ (Nicolai) mit einer ephemeren Installation, und testet seine Qualitäten als Resonanzkörper für die Musik der Gegenwart.
Weil Nicolai die asymmetrische Anlage als „starken visuellen Ort“ wahrnahm, suchte er nach einem „Element der Transformation“, das nicht in „Konkurrenz zur Architektur“ tritt. So kam der Künstler, der in Germanistik promovierte und dessen konzeptueller Ansatz stets unterschiedliche Medien einbezieht, auf die elementarste Ausdrucksform: die menschliche Stimme.
Nicolai bat zwölf internationale Komponisten, 2011 für jeden Monat ein Lied zu komponieren, das Bezug auf das aktuelle Zeitgeschehen nimmt. Ihre Kompositionen, werden nun ein Jahr lang an einem Sonntag im Monat vorgetragen. So entsteht im Laufe des Jahres eine Art gesungene Chronik von 2011. Bis zu vier Sänger der Stuttgarter „Neuen Vocalsolisten“ werden die Stücke, die zwischen klassischem Lied und Lautmalerei changieren, a capella interpretieren. Für den ersten Sonntag setzt sich Rolf Riehm in zwei Liedern mit Lady Gaga und der wegen Ehebruchs zur Steinigung verurteilten Iranerin Sakineh Mohammadi Ashtiani auseinander. Bei James Saunders steht hingegen nicht der Gesang, sondern die Strategie seiner Verbreitung im Mittelpunkt: Er greift die Organisationstruktur britischer Studentenproteste auf, sein Notenblatt ist eine Anleitung zum Mitmachen.
„Escalier du Chant“ bezieht sich auf Fluxus und die politisch geprägte zeitgenössische Musik der 60er Jahre. Nicolai nimmt zugleich Bezug auf Duchamps „Akt, die Treppe herabsteigend“ von 1912: Duchamp erweiterte die Malerei ins Filmische durch die Darstellung des Bewegungsablaufes im Raum. Der Gesang auf der Treppe ergänzt die Bildende Kunst durch Musik. Bei beiden spielt der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle.
Diese immaterielle Kunst ist auf der monumentalen Treppe von aufreizender Flüchtigkeit. Im Museum bleibt jede Klang-Aktion einmaliges Ereignis, dokumentiert im Anschluss nur durch jeweils ein Plakat. Doch Olaf Nicolai ist ein Meister der Dialektik - und ein Kunstproduzent im vollen Bewusstsein der medialen Reproduzierbarkeit: Er rechnet mit vielen Videos auf Youtube.
Roberta De Righi
Aufführungen am 27.2./27.3./17.4./29.5./26.6./31.7./28.8./25.9./30.10./27.11./18.12. zwischen 12 und 18 Uhr, Begleitprogramm unter www.pinakothek.de