Eröffnung der Ballettfestwochen mit Pina Bausch

Riesenanlauf für wenige Tanzpreziosen

von Isabel Winklbauer

Joana de Andrade in ihrem Element. Foto: Wilfried Hösl

Wer ist Joana de Andrade? Seit das Bayerische Staatsballett Pina Bauschs "Für die Kinder von gestern, heute und morgen" aufführte, weiß man es. Die Kompanie hat nun neue Gesichter - Gesichter von Tänzern, die seit Jahren ihren Dienst im Corps oder als Solisten leisten und nun endlich Raum für die eigene Person bekommen. Andrade war bisher einer der dienstältesten dritten Schwäne von rechts oder "Freundin von" - jetzt ist sie für immer das Mädchen mit dem blauen Rock und den Katzenpfotengesten, das die Bühne bis in den letzten Winkel mit Emotion und Lebenslust ausfüllt.

Es dürfte für sie und ihre 13 Mittänzer, die - für Bausch-Stücke kennzeichnend - gleichermaßen prominent hervortraten, schwer werden, wieder zur Routine zurückzukehren. Kein Zweifel, Pina Bausch, deren Tänzer die Parts mit den Münchnern einstudierten, hat mit der Truppe etwas angestellt.

Matej Urban und Leonard Engel spielen. Foto: W. Hösl

Dabei ist "Für die Kinder..." inhaltlich erschreckend mager. In einer 160-minütigen Aneinanderreihung von szenischen Schnipseln sehen die Zuschauer teils alberne, teils aber auch äußerst charmante Ideen zum Miteinander von Männern und Frauen. Da malt etwa Séverine Ferrolier mit teeniehafter Begeisterung "Hugs" und "Kisses" auf den Boden. Zwei Männer springen in einer Art Begrüßungs-Kampftanz aufeinander zu und prallen voneinander ab, oder das ganze Ensemble hopst gemeinsam auf dem Popo über die Bühne - das ist kindischer Quatsch im wahrsten Sinne des Titels. Andererseits gibt es aber auch Szenen wie die, in der Metteo Dilaghi ein rasantes Ballett mit den Händen entlang seines Körpers vollführt. Genial! Oder die, in der Daria Sukhorukova Jonah Cook ihre Stimme leiht, die ihn als mädchenhaft singendes Bonbon erscheinen lässt.

Mehrmals werden aber die Kindereien zu lang ausgewalzt, dieselben Bewegungen wiederholen sich zu oft. Wirklich beängstigend wird das aber dann, wenn einem die Frage durch den Kopf schießt, aus welcher Zeit dieses Stück stammt. 2002 feierte es in Wuppertal Uraufführung - war die Welt damals wirklich nur auf dem Susi-Sorglos-Trip? Berechnet man ein, dass der zu nah an der Uraufführung liegende 11. September 2001 keinen Einfluss auf "Für die Kinder..." hatte, bleibt nur der Schluss, dass die westliche Welt damals wohl auf einer Wolke der Glückseligen lebte, auf der das Tanztheater es sich leisten konnte auf Inhalte zu verzichten. Womöglich war dieser wehmütige Blick auf die Unbedarftheit vergangener Tage - neben der langweiligen Bühne aus fahrbaren weißen Wänden - auch der Grund dafür, dass nach der Pause etliche Sitze leer blieben. Eine kleine, aber augenfällige Fraktion des Publikums wollte sich der provozierenden Naivität der Vorstellung offenbar nicht länger aussetzen.

Marta Navarete Villalba redet mit Herz und Verstand. Foto: W. Hösl

Es wird viel geschäkert und gesprochen in "Für die Kinder...", ganz in klassischer Slapstick-Manier. So mancher Tänzer erweist sich dabei als anders als gedacht. Die süße Marta Navarete Villalba, erst seit Kurzem von der Junior Company ins Corps de Ballet gewechselt, entpuppt sich da beispielsweise als Vollblutweib mit rauchiger Stimme. Daria Sukhorukova hingegen gleicht einem Hauch, nicht halb so stark im Sprechen wie in den Fouettés der Paquita und Odette.

Pina-Bausch-Stücke lüften manchen Schleier und sind jeder Kompanie wärmstens zu empfehlen. Wenn sie nur so einfach zu haben wären - das Bayerische Staatsballett ist die erste Kompanie, die eines der jüngeren Werke der Choreografin aufführen darf.

Getanzt wird in "Für die Kinder..." allerdings wenig. Was bedauerlich ist. Denn, wenn es soweit ist und einer der Protagonisten zum Solo anhebt, dann beben die Wände. Joana de Andrade wird die Gnade solcher Soli zuteil: Im ersten birst sie mit schnellen, kleinen Sprüngen und katzenhaften Handbewegungen schier vor Freude, im zweiten erscheint sie mit tiefen Pliés und weiten Ports-de-bras nachdenklich und in sich gekehrt. Auch Matej Urban fasziniert, wenn er in seinem Solo mit allen Sinnen und Gliedern gen Himmel strebt, und Alexa Tuzil, wenn sie zu Discoklängen ihre ganze Weiblichkeit in Hände, Hüften und Füße legt. Bezaubernde Hebefiguren, in denen die Frauen wie Glücksdrachen mit flatternden Händen auf den Rücken der Männer schweben, vollenden die wenigen tänzerischen Exkurse. In solchen Momenten öffnet sich die Tür in eine andere Welt und das Publikum begreift, warum Pina Bausch ein Mythos ist. "Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren" lautet Bauschs berühmtes Zitat. In der Tat retten hier Minuten des Tanzes das ziellose Dasein der Bühnencharaktere.

Ab zum Frisuer! Die Herren unterhalten sich über ihre Großväter. Foto: W. Hösl

Die größte Qualität von "Für die Kinder von gestern, heute und morgen" liegt jedoch im Format. Die Fragmenttechnik - genauer gesagt die Methode, nicht linear zu erzählen, sondern in Splittern, die gegen Ende locker zu einer Einheit gefasst werden - ist im Kino seit Quentin Tarantino fest etabliert. Im Tanz, vor allem im Ballett, ist diese Methode dagegen nie richtig angekommen. Das Tanztheater spart sich meist die abschließende Verbindung der Fragmente, neue  Ballette bleiben aus Vorsicht linear. Die Münchner Aufnahme von "Für die Kinder..." beweist, dass man auch auf der großen Bühne erzählen kann, indem man die Botschaft nicht aufbauend "lehrt", sondern liebevoll einkreist. Eine Methode, die übrigens auch nichts für Anfänger ist: Bauschs Erbe für München erfordert mit seinen komplizierten Auf- und Abgängen, Requisitenschiebereien (unter anderem spielen Bürostühle, Schränke, Gießkannen, Mikrofone und Schuhe eine Rolle) sowie zahllosen Kostümwechseln eine organisatorische Disziplin der Stufe 100.

Wer Freude am fliegenden Wechsel hat, wird "Für die Kinder von gestern, heute und morgen" also lieben. So wie das Münchner Publikum, das sofort nach Ende des Stücks auf die Beine sprang und den zutiefst bewegten Tänzern, die ob dieses Erlebnisses teilweise Tränen in den Augen hatten, im Stehen applaudierte.

Veröffentlicht am: 06.04.2016

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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