In die offene Weite. Butoh-Performance mit Stefan Maria Marb in der Kirche St.Paul

Ambivalenz des Heiligen

von Michael Wüst

In die offene Weite. Stefan Maria Marb. Foto: Michael Wüst

Mit dem Glockenschlag 19.30 Uhr kommt Ulrich Schäfert zum Podest vor dem Altar der Kirche St. Paul und eröffnet den Solo-Abend des Butoh-Tänzers und Choreographen Stefan Maria Marb mit den Musikern Peter Gerhartz an der Orgel und Jost-H. Hecker am Cello. Vor den gut gefüllten Reihen baut er seine einleitenden Gedanken auf dem Ecce Homo von Pontius Pilatus im Angesicht des geschundenen Jesus auf. Er umreißt davon ausgehend das Konzept der Kunstpastoral in der Erzdiözese mit ihrem Stammsitz in St. Paul. Der erweiternde Begriff steht für etwas über Seel-Sorge hinaus, er will verdeutlichen, den Menschen als Ganzes zu betrachten, besonders mit den Mitteln der Kunst.

Peter Gerhartz an der Orgel setzt einige wuchtige Akkorde, die einem klarmachen, wo man ist. Ein unvermittelt einsetzender, irgendwie taumelnder Abgang in Arpeggien, bricht ebenso unvermittelt ab. Eine kurz sich öffnende Falltiefe fängt Jost Hecker mit dem Cello ab, in einem sonoren Untergrund, den man vom Cello nicht kennt. Mit zögerlichen, fein unterbrochenen Schritten, unsicher, aber suchend wie etwas Neugeborenes kommt der Homo Sacer des Butoh-Körpers von links aus der Sakristei. Vom ersten Moment an versteht der Tänzer es, die Aura des Heiligen in seiner Ambivalenz zur Gefahr der Existenz an sich in sich zu bannen und zuzulassen, für alle spürbar. Er ist es, er hat es, es hat ihn.

In die offene Weite. Stefan Maria Marb. Foto: Michael Wüst

Der Butoh-Körper nimmt anders wahr, seine Reaktionen auf das in die Welt geworfenen Sein verfügen nicht über die menschlichen Verabredungen, auf das Fremde zu reagieren. Die Altäre, sonst in der Fastenzeit abgedeckt oder geschlossen, sind offen und ziehen ihn an. Länger verharrt er bei dem Marienbild, "hört zu", lehnt an der verbindenden Wand, nähert sich mit Gesten der Ambivalenz, fragend, verneinend, suchend und trennend, Plötzlichkeit, Erstarrung. Wie, um ein Verstehen zu bekunden auf einer Transzendenzebene, die Anziehung und Abstoßung gleichberechtigt vereint, legt er den Schleier, mit dem er in die Welt St. Paul gekommen ist zu Füßen der Maria ab.

Ambivalenz eines heiligen Moments, Devotion wäre zivilisatorisch interpretiert. Das Heilige widerfährt mit Gewalt. Roger Caillois hat darüber geschrieben (Der Mensch und das Heilige) und Giorgio Agamben (Homo Sacer). Die undurchschaubare Energie vereinigt Glück mit dem Unglück, das die Voraussetzung für ihr Erscheinen ist.

In die offene Weite. Stefan Maria Marb. Foto: Michael Wüst

Der Butoh-Körper, ohne Kontakt zu einer eigenen Herkunft, ist verbunden mit dieser Energie, der Nähe zum Heiligen und damit in Gefahr, Opfer zu sein oder zu werden. Aber er ist trotzdem ein Suchender, wenn auch ohne ein postmodernes Recht auf Selbstbestimmung oder Selbstverwirklichung. So bleibt ihm nur der Weg durch die ganze Kirche. Die Zuschauer folgen ihm aus ihren Sitzreihen und bekennen sich auch als Suchende.

 

Der Butoh-Körper wird geworfen, verrissen, verdreht. Auf den Stufen zum Altar liegt er niedergeworfen, aber er richtet sich auf, fast in einem Impuls der Rebellion. In diesem Moment blickt Stefan Marb als würde er die Schatten einer menschlichen Gesellschaft wahrnehmen. Sonst waren auch seine offenen Augen verschlossen. Im Mittelgang der Reihen, zwischen den Schatten, die sein Blick gestreift hat, eröffnet sich zuletzt ein steiniger Weg der Bewusstwerdung.

In die offene Weite. Stefan Maria Marb. Foto: Michael Wüst

Der Butoh-Körper verwandelt sich zum Tänzer Stefan Marb, er erreicht mit Müh und Not das Tor, den rückwärtigen Ausgang, öffnet die Tür und blickt mit einer Ahnung von Hoffnung hinaus, in seinem Rücken eine Pietà. Großartig. Endloser Applaus.

Am 10. Mai 2025 inszeniert Stefan Maria Marb in St.Paul mit den Mitgliedern seines Butoh-Ateliers "Body_Prayer-ein Tanzgebet" www.butoh-marb.de

Veröffentlicht am: 18.03.2025

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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