Dürrenmatt am Münchner Volkstheater

Wittgenstein für ganz Arme

von Michael Weiser

Ein Baum wie eine Verstrickung: "Besuch der Alten Dame" am Münchner Volkstheater. Foto: Gabriela Neeb

Kennt man doch, den "Besuch der Alten Dame". Oder? Sapir Heller schreibt Dürrenmatts Klassiker fürs Münchner Volkstheater fort. Und schafft damit einen starken Abend. 

Eins, zwei, drei, vier, fünf. Zug um Zug entfaltet sich das Tableau der Mitspieler. Lehrer, Ärztin, prolliger Polizist, Kioskbesitzer Ill, Priester, Bürgermeister erscheinen auf der Bühne. Tatsächlich Zug um Zug: Hinter jedem Neuankömmling rauscht die Eisenbahn vorbei. Wieder und wieder, mit einem Fahrtwind, der die Gruppe vor-und zurückwirbelt, als müsse der Zug die Botschaft auch körperlich nahe bringen: Die Gegenwart, sie hält nicht am Bahnhof von Güllen. Die Stadt ist abgehängt, am Ende, auf den Hund gekommen. Als dann endlich mal eine Reisende anhält, nimmt's kein gutes Ende. Aber dazu später.

Sapir Heller hat diese Choreographie Güllener Bürger auf die Bühne des Münchner Volkstheaters gebracht, und das mit gewohnter Leichtfüßigkeit. Sie ist eine Regisseurin mit dem Talent, Schweres ganz leicht erscheinen zu lassen, ohne ihm die Wucht zu nehmen. Sie hat die Gabe, ihre Erzählung in gute, treffende Bilder zu kleiden. Man könnte sagen: Sie schafft es, das Abstrakte ins Leben zurückzubringen.

Ein Thema vieler ihrer Arbeiten fürs Theater ist das Nichtverschwindenwollen alter Rechnungen. Noch nach Jahrzehnten verlangen sie nach Bezahlung, notfalls von der übernächsten Generation. So war das beispielsweise in Hellers Inszenierung von "Amsterdam" noch am alten Münchner Volkstheater, an der Briennerstraße. So ist es auch jetzt in ihrer Version von Friedrich Dürrenmatts "Besuch der Alten Dame", mit dem Untertitel: "Auftritt der Enkelin".

Die Geschichte war als Unterrichtsstoff dermaßen verbreitet, dass sie Generationen von Schülern bekannt sein müsste. In groben Umrissen sei sie hier nur deshalb geschildert, um zu zeigen, wo Sapir Heller vom ausgetrampelten Pfad abbiegt. Klara Wäscher fängt im Städtchen Güllen etwas mit Alfred Ill an, der schwängert sie, entzieht sich seiner Verantwortung und lässt es zu, dass Claire in Schimpf und Schande verstoßen wird. Jahre später kommt sie wieder, als Claire Zachanassian, reich verwitwet und nach Rache dürstend. Sie bietet an, Güllen aus der Notlage zu helfen. Wenn man ihr den Alfred Ill ausliefert.

Zu dieser Fassung ist viel, wenn nicht alles gesagt. Über die sprechenden Namen etwa, am deutlichsten im Ortsnamen Güllen, über die Korrumpierbarkeit des Menschen, über die Passion des Alfred Ill, der sich schließlich aufopfert. Sapir Heller dreht das Ganze weiter: Wie stellt man sich zu einer Schuld, die nicht die eigene ist? Wie verhalten sich die Enkel zu den Taten ihrer Vorfahren? Sie hat eine eindrucksvolle Versuchsanordnung auf die klare, bildmächtige Bühne (Anna van Leen) gestellt, deren zentrales Element ein kahler Baum ist, ein Gewächs, so knorrig und in sich verdreht wie ein Dornbusch, mit Wurzeln in einer Hölle, die in Güllens Souterrain beheimatet ist.

Wie Dürrenmatts Claire Zachanassian eilt auch der jungen Claire (Nina Steils) ein Ruf voraus: "Bumsreich" sei sie, raunen die Güllener einander zu, eine Qualität, die sie in den Augen der Bürger zum Messias qualifiziert. Ein Empfangskommittee steht bereit, sie am Bahnhof willkommen zu heißen, in einer Beflissenheit, die sehr lustig anzuschauen ist. Missverständnisse sind die Wurzel der Komik, und das hier ist ein ganz großes Missverständnis.

Denn Claire will nur auftreten, mit Begleitmusiker Boby (Fiete Wachholtz), der sein Keyboard in einem sargförmigen Kasten mitführt. Das täuscht zunächst: Sie ist nicht Wohltäterin, auch nicht Rächerin, nur Sängerin. Und sie will einfach nur wissen, was denn damals passiert ist. Die Güllener wollen das nicht einsehen, sie wollen lieber nur so tun, als sei da ein ganz lieber Gast gekommen. Und überhaupt die Vergangenheit: Wovon man nicht reden darf, davon soll man schweigen, sagen die biederen Bürger wieder und wieder, ein Mantra wie Wittgenstein für ganz Arme. Man schweigt also, wortreich und anbiedernd, und in all dem Trubel und Lärm entsteht auf einmal ein ganz stiller Augenblick: Während alle auf sie einreden, wandern Nina Steils Augen über den Boden, ihr Blick ist aber nach innen gerichtet. Auf diesen Gedanken, mit dem sie sich erst anfreunden muss: Wie wäre es mit einem Versuch? Wie weit würden diese lästigen Güllener gehen? Ein paar Sekunden Sinnieren, dann spuckt sie's aus: eine Milliarde, wenn Alfred Ill stirbt.

Die Bürger, sie weisen Claires Angebot zurück und verschulden sich doch in Aussicht auf einen baldigen Geldsegen. Sie konsumieren und kaufen. Zum Beispiel gelbe Gummistiefel, mit denen sich trefflich durch den Güllener Unrat laufen ließe.

Anstand oder Anschreiben? Der Widerspruch verzerrt die Gestalten, verkrümmt sie, nötigt den Schauspielern ein sehr körperliches Spiel auf. Am eindrucksvollsten bei Jonathan Müller, der die Verschwörung schließlich akzeptiert - und von diesem Moment an in der Lage ist, sich auch körperlich von Güllen zu emanzipieren, mit seiner Persiflage eines Gehängten, mit der er den Bürgermeister vorführt: Red' nicht um den heißen Brei herum, sag's so deutlich, wie ich's hier mache. Er ist der, der sich nicht mehr verkrümmt, er nimmt die Haltung eines todgeweihten Spötters an.

Und Claire? Hat das so nicht gewollt. Es ist doch was zwischen ihr und Alfred, dem Enkel. Der hat sich mitschuldig gemacht, indem er Druck ausgeübt hat: auf den alten Richter, der damals, zwei Generationen zuvor, falsch entschieden hat. Der Enkel des Übeltäters will, dass der Richter schweigt von den Sünden der Vorfahren. Das wäre zu wenig,  für ein Todesurteil zumal. Das weiß auch Claire. Sie will ihr vergiftetes Angebot zurückholen, sie könnte es eh nicht erfüllen. Doch diese Verstricktheit, diese verdammte Verstricktheit der Güllener in ihre Schuld und ihre Schulden lässt sie taub gegen jeden Einspruch werden.

Ein starker, ziemlich lustiger und am Ende sehr trauriger Abend, der nicht nur Sapir Hellers feine Hand belegt, sondern auch sichtbar macht, wie gut behutsames und intelligentes Tuning einem Lehrstoff tun kann.

 

Veröffentlicht am: 25.04.2024

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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