"Bolschoi Babylon" auf dem Filmfest München

Ballettolymp im Blitzlichtgewitter

von Isabel Winklbauer

Sergej Filin nach dem Anschlag. Foto: Polyband

Vor drei Jahren versetzte ein Säureanschlag auf den künstlerischen Leiter des Bolschoi Balletts nicht nur die Tanzwelt in Aufruhr. Zufällig war damals ein britisches Filmteam anwesend, das sofort einhakte und die Dreherlaubnis für einen Dokumentarfilm einholte. "Bolschoi Babylon" heißt das Ergebnis, das nun mit kühnen Bildern, aber geringem Durchblick seine Deutschlandpremiere feierte.

Kühler Blick auf das Corps de Ballet. Foto: Polyband

Der Betrachter steht in der Kulisse, direkt unter dem Tutu der Ballerina. Theoretisch könnte der Blick nun die langen Strumpfhosenbeine hinauf wandern bis dorthin, wo im Schritt das Trikot beginnt und die Pobacken sich anfangen zu formen. Doch er wird magisch abgelenkt von etwas noch Faszinierenderem: dem gleißenden Scheinwerferlicht auf der Bühne, in das Maria Alexandrowa gleich einfliegen wird, als Odette, Nikiya oder sonst eine der großen Rollen. Aufnahmen wie diese machen Nick Reads Film "Bolschoi Babylon" zu einer Besonderheit. Der Londoner Read hat "eigentlich keine Ahnung von Ballett", wie er bei der Fragestunde nach der Premiere im Citykino zugibt – und genau das bereitet den Weg für unverstellte Einblicke in die Arbeit der Tänzer. Wenn die Schuhe in Kolophonium tauchen, sieht man nicht die Spitzenposition mit beeindruckend gedehntem Spann, sondern die platte Sohle im weißen Staub wenden. Wer wusste, dass der ganze Schuh rein muss? Und wenn die erste Solistin Anastasia Meskowa ihren großen Auftritt hat, richtet sich Reads Kamera nur teils auf ihre Wahnsinnsleistung und viel öfter auf ihren kleinen Sohn, der in der Bühnengasse wartet und nicht mal hinsieht, so oft hat er die alleinerziehende Mama schon in "Spartakus" gesehen.

Die Dokumentation greift keine Legende auf, sie beobachtet die berühmteste Kompanie der Welt ganz ungerührt. Wie einen extrem gut trainierten Sturmtrupp vielleicht. "Das Bolschoi ist unsere Geheimwaffe", sagt ja auch Ministerpräsident Dmitri Medvedev extra für den Film beim Interview in der Zarenloge. Hinzu kommt: Regisseur Read filmt oft in Kriegsgebieten.

Manchmal ist dieser tanzignorante Blick verblüffend, beispielsweise, wenn eine der Solistinnen zum Spanischen Tanz in "Schwanensee" mit drei Grand Jetés auf die Bühne sprengt. Der Ruf des Bolschoi kommt nicht von ungefähr, belegt diese Szene. Er kann aber auch gemein sein. Einmal wird eine heutige Odette im zweiten Akt von "Schwanensee" direkt mit der legendären Maia Plissetskaja in derselben Sequenz gegengeschnitten. Der Vergleich ist einfach nicht zu gewinnen, und so lautet die Botschaft für jeden Laien, dass das Bolschoi nicht mehr das ist, was es einmal war.

Pavel Dimitrichenko hinter Sicherheitsglas. Foto: Polyband

Dies wiederum führt zur Bedeutung des Säureattentats im Jahr 2013. Der Tänzer Pavel Dimitrichenko beauftragte damals einen kriminellen Handlanger damit, dem Ballettdirektor Sergej Linkin auf dem Weg nach Hause Säure ins Gesicht zu schütten, lautet die offizielle Geschichte. Linkin erlitt damals Verbrennungen und büßte das Licht seines rechten Auges ein – weil er bestraft werden sollte dafür, dass er Dimitrichenkos Freundin bei der Rollenvergabe nicht berücksichtigt hatte und weil er außerdem Rollen gegen Bestechungsgeld und sexuelle Gefälligkeiten verteilt haben soll. An Motiv und Schuld des Täters bestehen allerdings Zweifel, da eine andere Rivalität in den Monaten zuvor eine größere Rolle gespielt hatte, nämlich die zwischen Ballettdirektor Linkin und dem Bolschoitänzer-Urgestein Nikolai Tsiskaridse, der Ballettdirektor werden wollte ...

Romantisches Plakat zum sachlichen Film. Foto: Polyband

Dies alles erzählt "Bolschoi Babylon" nun leider nicht aus. Es gibt nur Andeutungen ("Es gab Rivalitäten...") und vor allem Statements aus der Perspektive des neuen Bolschoi-Intendanten Wladimir Urin, der öffentlichkeitswirksam von "Rollen im Zusammenhang mit Geld" und "künftig mehr Transparenz und Talent" spricht. Für den zu sechs Jahren Haft verurteilten Pavel Dimitrichenko (er kam diesen Juni frei) erhielt Read leider keine Interviewerlaubnis. Doch auch Dimitrichenkos Exfreundin Angelina Vorontsova, deren Verlangen nach der Hauptrolle in "Schwanensee" ja die Ursache gewesen sein soll, kommt nicht zu Wort. Es ist nicht mal die Rede von ihr, ebenso wenig wie von dem Auftragsschmeißer Yuri Zarutsky, der allerdings zehn Jahre Haft absitzt. Tsiskaridse, der langjährige Konkurrent des Opfers Linkin, ist ebenfalls unterrepräsentiert, wirft nur einige Sätze ein, obwohl er doch sicher viel zu erzählen hätte. Das Bild der Tat ist unvollständig, Uneingeweihte dürfen vor sich hin rätseln. Und obgleich das größte Problem beim Dreh "die Selbstzensur der Gesprächspartner" war, wie Read berichtet, hätte man sich doch ein wenig mehr nach Hintergrundinfos umsehen können. So ist "Bolschoi Babylon" ein Spezialfilm für Nick-Read-Fans, Kameraleute und Ballettkenner.

"Bolschoi Babylon", UK 2015, Filmstart Deutschland: 21. Juli 2016.

Veröffentlicht am: 28.06.2016

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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