Karl Stankiewitz über Wolfsjagd in Bayern

Wie hältst du es mit der Wildnis?

von Karl Stankiewitz

Der Wolfsexperte Dr. Eric Zimen. Foto: Karl Stankiewitz

Kommt der Wolf wieder? Und wenn er kommt, ist er dann sozusagen ein böser Wolf? Im Bayerischen Landtag mehren sich die Stimmen, die eine Lockerung des bislang noch bestehenden Schutzes für die Wildtiere fordern, vor allem bei CSU und freien Wählern. Befürchtet wird, dass Wölfe zunehmend Weidetiere töten. Hubert Aiwanger (Freie Wähler) meint, dass Wölfe ganz grundsätzlich "nicht mehr integrierbar" seien in eine dicht besiedelte Kulturlandschaft. KV-Autor Karl Stankiewitz erinnert sich, wie vor Jahrzehnten schon einmal zur Jagd geblasen wurde. (gr.)

 

Die Hatz ist eröffnet. Am 21. März 1976, Sonntagabend, weist Bayerns Innenminister Bruno Merk die Polizei in den Landkreisen entlang der tschechischen Grenze an, die acht aus dem Nationalpark Bayerischer Wald ausgerissenen Wölfe abzuschießen. Sie sind am 8. Januar im hohen Schnee über den Gehegezaun gesprungen. Vereinzelt tauchen sie abends, nachts oder morgens an Straßen und Ortsrändern auf, während sie tagsüber im Dickicht schlafen. Einer streift neugierig um ein Schulbushäusl, wo Kinder warten, und vertrollt sich erst bei Ankunft des Busses. Bei der Bergerbrücke soll ein Wolf mehrmals die läufige Hündin eines Häuslers besucht haben.

Als erste Meldungen über Rehrisse in München eintreffen, verfügt die Staatsregierung einige Sicherheitsmaßnahmen. Die werden am 28. Januar wieder aufgehoben, nachdem sechs namhafte Zoologen unter Hinweis auf Italien, Jugoslawien und Polen bestätigt haben, die Ausreisser seien für den Menschen vollkommen ungefährlich. Freundliche Waldler sollen Wolflstiere sogar heimlich gefüttert haben.

Manche Bauern fürchten aber, dass man die Kinder nicht mehr alleine zur Schule schicken könne oder „nachts nimmer naus ko, wann d'Kuah kalbt“. Mandatsträger schüren die nicht zuletzt durch Märchen begründeten Ängste. „Beim ersten Zwischenfall mit einem Wolf ist unser ganzer mühsam aufgebauter Tourismus kaputt“, warnt Hans Kammermeier, Polizeimeister und Verkehrsamtsleiter von St. Oswald am Nationalpark. Schon gäbe es erste Absagen von Urlaubern.

Der erste Zwischenfall passiert am 20. März. Auf einem Campingplatz bei Forstwald nähern sich zwei „hundeähnliche Tiere“ spielenden Kindern; sie wollen offenbar mitspielen. Einer packt den vierjährigen Roman Frisch an der Hose und will ihn anscheinend in den Wald schleppen. Ein Dreizehnjähriger kann den Kleinen dem „Hund“ regelrecht regelrecht entwinden, Roman trägt eine leichte Bisswunde davon. Schließlich können die Erwachsen, die sich mit Knüppeln und lautem Rufen näherten, die Eindringlinge verjagen, es muss sich um Jungtiere gehandelt haben.

Das ist das Signal zur Großoffensive an der Wolfsfront, wo es schon eine Weile kriselt. Nicht nur die Jäger, die das „Raubzeug“ immer schon für gefährlich hielten, sollen abermals mit scharfer Waffe statt mit einem Narkosegewehr aufbrechen, um den Bayerischen Wald von Wölfen zu säubern. „Es ist eine bittere Genugtuung, dass zum Beweis unserer Meinung erst ein Kind halb tot gefressen werden musste“, übertreibt der Verband der Grünröcke. „Zur Beseitigung einer möglicherweise drohenden Gefahr“ wird obendrein eine ganze Hundertschaft der Bereitschaftspolizei von München her in Marsch gesetzt.

Auch eine spielerische Gefährdung von Kindern könne nicht hingenommen werden, begründet das Ministerium den Schießbefehl, nachdem Experten noch erklärt haben, dass Wölfe eine besondere  Vorliebe für kleine Kinder haben. Zoologen kommt der Vorfall  nicht ungelegen, sie halten ihn für einen „nicht gewollten Versuch für die Frage  der Wiedereinbürgerung von Raubtieren in Mitteleuropa“. Eine solche Chance gab es bisher nur zweimal: in Alaska und in Minnesota wurden Wölfe freigelassen, konnten aber in einer ungewohnten Umgebung nicht überleben.

Der schwedische Wolfsexperte Dr. Eric Zimen, der die aus dem Nationalpark Abruzzen stammenden Tiere wissenschaftlich betreut, nutzt derweil den Ausbruch dazu, das Verhalten der im Gehege geborenen Tiere in freier Wildbahn zu beobachten. Als Anhaltspunkte für die Wanderschaft seiner Schützlinge dienen ihm Spuren im Schnee und gerissene Rehe. Zimen versteht dies als Beitrag zur Forschung über die Wiedereingliederung der Wildtiere in Europa. (Von zugewanderten Wölfen ist noch keine Rede.) Das bayerische Innenministerium aber setzt andere Prioritäten: Der Schutz der Bevölkerung genieße Vorrang vor Experimenten der Tierverhaltensforschung.

Über dreihundert Polizisten und Jäger - „die halbe bayerische Armee“, sagen Spötter - suchen systematisch nach den acht zotteligen Ausbrechern. Ihre Strategen hoffen, im frisch gefallenen Schnee leichter verräterische Spuren entdecken zu können. Der erste Erfolg ist einem Jäger beschieden, der etwa einen halben Kilometer vom  „Tatort“ entfernt einen der „kinderfreundlichen“ Isegrims erlegt. Der nächste tödliche Schuss fällt jenseits bei Schlägl in Oberösterreich, 20 Kilometer entfernt.

Um die restlichen Sechs unschädlich zu machen, fordert das Landratsamt Freyung-Grafenau den Einsatz der Bundeswehr, der vorerst aufgeschoben wird. Bürgerinitiativen plakatieren: „Lasst die  Wölfe leben!“ Weitere drei der Flüchtigen werden im Verlauf der nächsten zwei Jahre erlegt,  von deutschen und tschechischen Jägern. Auch im Großgehege des Nationalparks Bayerischer Wald werden im Frühjahr 1978 „überzählige Wölfe“ erschossen.

Resigniert flüchtet ihr Freund und Helfer Dr. Eric Zimen, der ein Buch über Mythos und Verhalten des Wolfs veröffentlicht hat, aus Bayern: Im Grenzraum zwischen dem Saarland und Frankreich studiert er fortan „die Ökologie der Füchse“. Im August 1978 sagt er mir: „Ich fürchte für die Zukunft vor allem, dass die Eigenart dieses Waldes und die Eigenart der Menschen verloren gehen, wenn die enorme Forcierung des Fremdenverkehrs und die ‚Modernisierung’ wie bisher fortgesetzt werden.“ Im Frühjahr 2003 stirbt der Wildforscher an einem Hirntumor.

Um die gleiche Zeit wird im Bayerischen Wald wieder ein Wolf, aus dem Tierpark Lohberg entwichen, von einem Jäger erschossen. Ende 2009 wurde im Mangfallgebirge (Oberbayern) erneut ein Wolf gesichtet. Und im Oktober 2010 taucht erstmals ein - vermutlich aus dem Balkan -  eingewandertes Tier in Tirol auf. Längst gibt es Managementpläne für die „großen Beutegreifer“, die überwiegend von gerissenen Schafen leben; für geschädigte Tierhalter sind Ausgleichszahlungen vorgesehen. Unbeantwortet aber blieb bis heute die eigentliche „Wolfsfrage“, die eine Gretchenfrage an unsere Zivilisation ist: Wie hältst du es mit der Wildnis?

Aus dem Buch von Karl Stankiewitz " Gezähmte Wildnis", erschienen bei Bayerland.

Veröffentlicht am: 08.02.2017

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