Giselle-Wiederaufnahme am Bayerischen Staatsballett

Kurland in Flammen!

von Isabel Winklbauer

Prisca Zeisel und Emilio Pavan als Giselle und Albrecht beim schicksalhaften ersten Flirt. Foto: Serghei Gherciu

Giselle schwach auf der Brust und soll nicht tanzen? Mutter Berthe fantasiert! Prisca Zeisel in der Titelpartie des romantischsten aller Ballette bringt eine derart positive Energie mit, dass das Theaterdach brennt. Dank der Wienerin, die in der Rolle debutierte, wurde die Wiederaufnahme zur Sternstunde. Dabei blieb es bis zum letzten Moment spannend, ob die Vorstellung überhaupt stattfinden würde – am Wochenende zuvor waren drei Aufführungen wegen Corona abgesagt worden.

Das ganze Staatsballett schien sich der Besonderheit der Situation bewusst zu sein. Heute gilt es, heute geben wir alles, denn wer weiß, wie oft wir "Giselle" geben können! Diesen befeuernden Gedanken schien jeder Solist, jeder Corpstänzer im Ensemble zu verspüren. Von Anfang an schwebte der Geist einer einmaligen Gelegenheit über der Vorstellung, eine Magie, die auch die Zuschauer erfasste. Und Prisca Zeisel, Erste Solistin der Compagnie, war die Glückspilzin, die heute zum Zuge kam. Was als einigermaßen spannend zu bezeichnen war, denn Zeisel ist keine von den lyrischen Windfedern, mit denen man Giselle meist besetzt, sondern kraftvoll, schön und weiblich. Eine mutige Wahl also, und innovativ.

Giselle (Prisca Zeisel und Ensemble) tanzt auf ihrer Verlobungsfeier. Foto: Serghei Gherciu

Schon wenn Zeisel aus ihrer Hütte kommt, ist sie gar nicht so verwirrt über Albrechts Klingelstreich, sondern freut sich prinzipiell ihres Lebens. Tanzen ist ihr wichtiger als irgendwelche Klopfer an der Tür, und als Albrecht, Herzog von Kurland und getarnt als Bauer, sich ihr in den Weg stellt, fühlt sie sich fast ein bisschen gestört in ihrem Element. Ihre Koketterie hat eine handfeste Ursache. Später in der Wahnsinnsszene versinkt sie auch nicht in sich selbst. Sie tanzt ihren Schmerz über Albrechts Lüge, ihre Erinnerungen an sein Wort, so ausdrucksstark, dass alle um sie herum flammend mit ihr mitfühlen. Es ist eine der ergreifendsten Interpretationen der Münchner Tanzgeschichte, modern und psychologisch voll auf der Höhe. Leid und Wahnsinn wirken verheerender an einem starken Menschen das führt Prisca Zeisel hier vor.

Technisch hat Zeisel rein garnichts zu verbergen. Wie oft in den letzten Jahrzehnten haben Münchner Prinzipalinen im zweiten Akt die Füße etwas angepasst, halbe Spitze statt Spitze oder umgekehrt, das Tempo der Promenaden verändert oder andere kleine Herausforderungen gebeugt? Zeisel meistert die Choreografie nach Coralli, Perrot und Petipa makellos. Ihr Schwung, der die ehrfürchtige Vorsicht anderer Giselles ablöst, ist erfrischend. Es fehlt noch ein wenig an Gravität im zweiten Akt, doch hat sich die Aufregung erst einmal gelegt, wird sie sich sicher finden. Die entscheidende Sequenz aus schnellen, kleinen Sprüngen gelingt ihr mit Anmut und Perfektion, sie fliegt geradezu hindurch. So kann sich Prisca Zeisel alles in allem recht dicht hinter einer Olga Spessivtseva, einer Carla Fracci einreihen, und auf jeden Fall vor allen anderen Münchner Giselles der letzten zwanzig Jahre.

Albrecht (Emilio Pavan) erhält Giselles Unterstützung und überlebt so den Tanz-Amok der Wilis. Foto: Serghei Gherciu

Auf Emilio Pavan als Albrecht wirkt so eine Leistung natürlich ermunternd. Pavan, der ebenfalls in der Hauptrolle debutiert, gibt einen äußert lebendigen Herzog mit Verve in den Variationen und einem finalen Schwur, sich zu ändern, der nicht übertrieben, sondern aufrichtig und jugendlich frisch wirkt. Elvina Ibraimova, erstmals als Myrtha zu sehen, wirkte manchmal wie eine beleidigte italienische Diva. Sonst eher kühl und bleich gezeichnet, gab es diesmal eine wesentlich heißblütigere Interpretation der Königin der Wilis zu sehen, was ebenfalls eine schöne Neuerung ist.

Was ist dem Zuschauer nun mit Madison Young, Jeannette Kakareka und Maria Baranova in der Titelrolle entgangen? Zumindest Madison Young darf sich in der Vorstellung am 28. Januar 2022 zeigen. Und auch den anderen Ballerinen wünscht man es von Herzen, dass sie noch einen Termin in dieser Speilzeit ergattern. Giselle ist schließlich die Rolle, die jede Ballerina tanzen möchte. Die Arbeit daran ist ein Wendepunkt in jeder Karriere. Für Prisca Zeisel könnte die Giselle nun durchaus der "Aufsteig in die Weltspitze" sein, wie einer ihrer Follower auf Instagram schreibt.

Was Trinity und Neo können, können Giselle und Albrecht schon lang: die Auferstehung durch Liebe. Foto: Serghei Gherciu

Davon abgesehen ist es einfach nur eine (durch Corona verursachte) Schande, dass das Nationaltheater nicht voll besetzt ist bei solch einer Vorstellung, und dass die Künstler nicht ihren vollen Applaus ernten dürfen. Sie sind in einer solchen Situation Märtyrer einer stupiden, geistlosen Gesundheitspolitik. Bleibt zu hoffen, dass Theophile Gautier vielleicht ein wenig davon mitbekommen hat. Falls ja, sitzt der Librettist der Ur-"Giselle" von 1841 (die schon 1845 in München gastierte) und erster Ballettomane der französischen Romantik jetzt bestimmt seliger lächelnd auf seiner Wolke als noch am Freitag vor der Vorstellung.

Veröffentlicht am: 25.01.2022

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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