Lucinda Williams im Technikum

Sie singt dieses Land

von Michael Wüst

Lucinda Williams. Foto: Michael Wüst

Lucinda Williams gilt als die größte Singer-Songwriterin unserer Zeit. Der schwerfällige Begriff aus dem Zettelkasten der Pop-Kategorien wird der Südstaaten-Poetin nicht gerecht, das ist jedem klar, der ihn gebraucht, auch wenn die mittlerweile vom Leben hart Geschlagene wackelig aufs Siegertreppchen gestellt wird.

Erleben konnten wir sie am Freitag, 13. Januar 2023, im Technikum. Es verschwand jeder Begriff. Denn es ist ein Gesang. Sie besingt dieses Land. Sie singt dieses Land. Es ist amerikanische Poesie.

Von ihrem Vater, selbst Poet und Literaturprofessor, bekam sie eine Liste von 100 Büchern geschenkt, die sie lesen sollte, gerade als Anerkennung dafür, dass sie ihre College-Loyalität (pledge of allegiance) in Zusammenhang mit Vietnamprotesten verweigert hatte und hinausgeworfen wurde. Mit ihm zog sie in den Südstaaten gut ein dutzendmal um, mit Ginsberg, Bukowski und Flannery O´Connor unterm Arm. Auf der Landstraße im ewigen Staub der „Wheels on a Gravel Road“. Ein junges Mädchen, born a rolling stone, auf den Landstraßen von Walt Whitman.

Sie wird ihr Leben lang dieses Land atmen, begehen, mit den Schmerzen der Liebe besingen. In den Bars der Kleinstädte, den Hinterhöfen der Liebe und der Niederlagen, den schäbigen Shacks zwischen den Baumwollfeldern und auf den Highways der Geister.

Ihre langjährige Touring-Band Buick 6 beginnt umstandslos. Das Intro referiert im Zusammenspiel der beiden Gitarristen Stuart Mathis und Doug Pettibone noch dem Country-Idiom, aber es ist nicht mehr der schmelzende Klang von Fiddle und Pedal Steel Guitar des Idaho Home. Schon rollt ein Riff herein wie eine Bowling-Kugel aus der schrumpligen Hand Keith Richards'. In „Real Live Bleeding Fingers and Broken Guitar Strings“ singt sie von ihrem Prince, einem Bühnenstar, der den Boden verloren hat und selbst und nur noch von der Star-Klamotte, „draped in velvet robes“, zusammengehalten wird. Der Sprachrhythmus des Titels, im Refrain unerbittlich wiederkehrend, spiegelt sich in dem dunklen Riff der Gitarren. Es ist eine kreisende Bewegung – der Versuch in sich selbst zurückzukehren. Aber da ist kein Turnaround, es gibt kein Zurück, das Scheitern selbst ist der Groove.

Man hört von Verlorenen, die auf der Suche nach ihren Wurzeln im Rhythmus eines Southern-Gothic-Rock-Steady ihr Grab schaufeln. Zu hören von der hellen, kantigen Stimme Lucinda Williams, in der manchmal eine mädchenhafte Empörung mitschwingt, wenn sie in „Drunken Angel“ ratlos vor dem toten Blaze Foley, einem geliebten Pechvogel, zu stehen scheint und dem Blut zuschaut, das aus einem Loch in der Brust tropft. Mit großen Augen.

Aus der Zeit der Vorarbeiten zum Album Car Wheels on a Gravel Road, das ihr den internationalen Durchbruch verschaffte, ist „Lake Charles“. Es ist die Geschichte eines Ex-Lovers, den sie zum Sterben nach Hause bringt an einen Ort, von dem er behauptet, dort geboren zu sein: Lake Charles. Aber es stimmt nicht, sie ist dort geboren, er wird dort sterben. Das ist lakonisch und doch zart.

In der Tat hatten die beiden zusammen im Staub der Landstraße diese Region befahren, die das Streckennetz ihrer Poesie in den Wheels on a Gravel Road wurde: Von Jackson nach Vicksburg, von West Memphis nach Slidell, vom Louisiana Highway zum Lake Pontchartrain - „in a yellow Camino listening to Howlin Wolf“, wie sie später auf der Platte und im Technikum singen wird.

„Sie hat auch happy Songs“, sagt sie zwischendrin und lächelt verschämt. An der Bar steht ein Mann mit tief hereingezogenem Käppi, über sein Bier gebeugt und schnieft und schnieft. Er dreht sich nie zur Bühne um.

„I am he that aches with amorous love; does the earth gravitate? Does not all matter, aching, attract all matter? So the body of me to all I meet and know“, Walt Whitman, Leaves of Grass.

Veröffentlicht am: 20.01.2023

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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