"Heute hört man andere Musik und nimmt andere Drogen, aber das Erlebnis, eine Zeit lang im Club zu leben, ist übertragbar"

von Gabriella Lorenz

Wie sich das Münchner Nachtleben von 1949 bis ins Techno-Zeitalter entwickelt hat, dokumentierte 2008 das Bilderbuch „Mjunik Disco“. Jetzt zeigen die Münchner Kammerspiele eine gleichnamige Inszenierung von Stefan Pucher. Seine Inszenierung stützt sich jedoch vor allem auf Rainald Goetz' Aufzeichnungen „Rave“, die als „Lob der Kybernetik“ veröffentlichten FSK-Songtexte von Thomas Meinecke und Andreas Neumeisters Buch „Gut laut. Version 2.0“. Die Songs wählte der Popmusiker Christopher Uhe aus. Wir haben uns mit ihm über „Mjunik Disco“ unterhalten.

Herr Uhe, wollen Sie und Pucher die Münchner Disco-Szene ins Theater holen?

CHRISTOPHER UHE: Der Titel weckt als erstes die Assoziation an die goldene Zeit der 70er Jahre, als Giorgio Moroder in seinem Münchner Musicland-Studio mit weltbekannten Künstlern wie Donna Summer, Freddy Mercury und vielen andneren arbeitete. Aber das hat nur indirekt zur tun mit dem, was wir machen. Die Inszenierung stützt sich in erster Linie auf „Rave“ von Goetz, der versuchte, das Nachtleben der 80er und 90er Jahre in der Disco, im Club festzuhalten. Uns interessieren daran universelle Aspekte, die über seine Geschichte hinausgehen.

Goetz' Text ist ja auch schon 12 Jahre alt.

Die historische Distanz ist ein Korrektiv, aber das Lebensgefühl trägt sich in abgewandelter Form weiter fort. Heute hört man andere Musik und nimmt andere Drogen, aber das Erlebnis, eine Zeit lang im Club zu leben, ist übertragbar. Wir wollen nichts wiederbeleben, sondern nachsehen, wie das damals war. In Bert Neumanns Werkraum, der auch wie ein Erinnerungsraum funktioniert, blicken wir aus der Distanz auf eine Lebensform, die man mal selber gelebt oder gestreift hat.

Ist der Abend eher Theater oder Konzert?

Texte und Musik wechseln sich ab. Die Meinecke-Songtexte erscheinen manchmal in veränderter Version, eingebaut in andere Songs und teilweise mit neuer Musik. Von Neumeister haben wir viele musikalische Anregungen aufgegriffen. Die Schauspieler spielen keine festen Figuren, sie und zwei Musiker sind die Band. Disco ist in den 70ern entstanden und hat erstmals in der Popgeschichte die schwul-lesbische Kultur auf breiter Ebene in den Mainstream integriert. Weite Teile der Rockmusik der 70er waren extrem heteronormativ, da war die Disco-Musik ein Befreiungsschlag und hat viel verändert in der Selbstwahrnehmung. Insofern ist Disco im philosophischen Sinn ein Ereignis, welches das Koordinatensystem der Möglichkeiten rückwirkend verändert hat; vieles, was vorher popkulturell nicht existent war, ist in der Folge fester Bestandteil des Mainstreams geworden. Ich habe acht Stücke ausgewählt, die für mich viel mit der Lebensform Nachtleben zu tun haben, auch wenn man nicht alle im Disco-Kontext verankern kann. Es geht um die tiefere Bedeutung von Songs, um die von den Texten evozierten Gefühle. Das älteste Stück ist von 1970 von Neil Young. Wir haben uns nicht darauf versteift, den enggefassten Rahmen von Disco bis Techno heute abzubilden, sondern beschäftigen uns mit grundlegenden Erfahrungen, mit nicht alltags-kompatibel erscheinenden Lebensformen.

Die man meist nur zeitlich begrenzt ausleben kann.

Pucher und ich sind über 40, für uns sind die persönlichen Bezüge länger her. Ich gehe selbst nicht mehr in Clubs, sondern stehe früh auf und bringe mein Kind in die Kita. Ich habe mich 15 Jahre im Turnus von Plattenveröffentlichung - Tournee - Plattenveröffentlichung - Tournee bewegt. Heute mache ich alles mögliche, produziere auch andere Künstler, spiele mal als Gast in anderen Bands oder als Studiomusiker. Vor ein paar Jahren bin ich eher zufällig zum Theater gekommen.

Setzen Sie Trends oder folgen sie ihnen?

Ich komme von der Independent Music und habe immer abseits eines Mainstreams gearbeitet. Das hat weder Trends gesetzt, noch ist es irgendwelchen gefolgt.

Ist „Mjunik Disco“ eine Nostalgie-Veranstaltung?

Für mich hat der Abend auch was Melancholisches: Es ist die Trauer über den Verlust von etwas, das man nie besessen hat, über den Versuch, die Zeit festzuhalten. Aber es ist kein genereller Abgesang auf dieses Lebensgefühl. Erfahrungen wie Goetz kann man heute noch machen - in anderen Clubs, mit anderen Menschen. Heute herrschen im Clubleben andere Formen des Miteinander, aber Subkultur und Techno gibt es immer noch. Der Untergrund hat sich ausgedehnt in größere Bereiche, und bestimmte damalige Merkmale findet man heute nicht wieder. Das ist es wert, drauf zu blicken.

Veröffentlicht am: 21.04.2011

Über den Autor

Gabriella Lorenz

Gabriella Lorenz ist seit 2010 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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