Eine wundervolle Grausamkeit - Winters Knochen von Daniel Woodrell

von Florian Haamann

Copyright: Liebeskind 

In einer abgeschiedenen, mafiösen Umgebung kämpft die 16jährige Ree Dolly um die Existenz ihrer Familie. Mit sprachlicher Wucht und erfrischenden Bildern beschreibt der Autor Daniel Woodrell die Suche nach ihrem Vater. Die Verfilmung von „Winters Knochen“ wurde 2010 als bester Film beim Sundance Festival gekürt. Jetzt ist das Buch auf Deutsch erschienen.

So trostlos und grausam ist die Welt, die der US-Autor Daniel Woodrell um die 16jährige Ree Dolly entwirft, dass man sich als Leser eigentlich wünschen müsste, er hätte sich, statt zu schreiben, besser zehn Finger gebrochen. Aber der Roman, den er in einem Akt der Graumsamkeit erschaffen hat, ist so großartig, dass man schnell bereit ist, ihm die Gewalt zu verzeihen, sie sogar zu goutieren und somit Rees Schicksal als eine Art Kollateralschaden im Namen der Kunst zu akzeptieren.

Schauplatz ist das winterliche Ozark-Plateau im Zentrum der USA – eine verschlafene, verdammte Gegend. Seit ihrer Besiedelung vermehren sich dort nur wenige Familien und so gibt es vor allem die Dollys und die Miltons, die dafür gleich zu Hunderten. Neben Fremden versucht man sich auch Gesetz und Zivilisation vom Leib zu halten. Und so beschäftigt sich Rees Familie neben den unvermeidlichen Verwandtschaftsfehden vor allem mit Drogenproduktion, Handel und Konsum. Ree kümmert sich um die Familie, seit ihre Mutter, ähnlich einem Eimer voller kleiner Löcher, nach und nach ihren Verstand abgegeben hat. Wie es dazu kam, erfährt man als Leser nicht. Lediglich, dass sie einmal bessere Zeiten gesehen hat. Der drogenmischende Vater verpfändet das Haus der Familie als Kaution und verschwindet kurz vor dem entscheidenden Gerichtstermin. Rees größtes Problem ist es jetzt nicht mehr, die Familie gegen alle Armut vor dem Untergang zu bewahren, sondern zu versuchen, diesen unwürdigen Zustand zu retten – bevor „das Gesetz“, wie Vertreter der Justiz bei den Dollys heißen, sie wegen der fälligen Kaution aus dem Haus werfen lässt. Dazu muss sie ihren Vater zurück holen. Oder zumindest seine Überreste auftreiben um zu beweisen, dass er nicht mehr auf der Flucht ist.

Mit ihren 16 Jahren glaubt sie zu wissen, wie skrupellos die Welt ist, in der sie lebt. Dass ihre Vorstellungen von der Realität einer romantischen Idylle gleichen, spürt sie, als sie anfängt da Fragen zu stellen wo normalerweise geschwiegen wird. Die Stärke, die sie trotz aller Gewalt entwickelt, würde man als Leser als unglaubwürdig empfinden, wäre es nicht diese sehr spezielle Ree Dolly, die man begleitet.

Nur einmal, während eines Spaziergangs mit ihrer Mutter, leistet sie es sich, für wenige Zeilen ein junges Mädchen zu sein: „Mom ich brauche dich. Mom, schau mich an. Schau mich bitte an, Mom. Ich brauche deine Hilfe. Es passieren Dinge, bei denen ich nicht weiß, was ich tun soll. Mom? Schau mich an Mom. Mom?“ Es ist ein finales Durchatmen, der verzweifelte Versuch ihre Unschuld zu bewahren, bevor sie endgültig Teil der Erwachsenenwelt wird.

Daniel Woodrell entwirft in „Winters Knochen“ nicht nur eine Figur, die auch Tage nach der Lektüre noch in den Gedanken des Lesers weiterkämpft und leidet. Er präsentiert auch die traurige Milieustudie einer Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft, die nach eigenen Regeln lebt und alles, was wir für richtig halten, abwirft, als wäre es ein luxuriöser Ballast.

Das verstört auch deshalb, weil es zunächst wirkt, als blicke man zurück in eine längst vergangene, anarchische Gründerzeit. Bis man sich dann aber doch bewusst wird, dass das, was man liest, Teil der Gegenwart ist.

Woodrell ist ein begnadeter Wortkünstler, der Sätze wie den folgenden ins Buch meißelt: „Als Ree sich rührte, fiel sie in sich zusammen, und der Chor in ihr schlug neue, scharfe Töne an. Rees Leiden war das Lied, und dieses Lied kannte viele Stimmen.“

An dieser Stelle sei erwähnt, dass Peter Toberg den Text übersetzt hat und damit nicht unschuldig ist an der Wucht, die die Sprache in der deutsche Ausgabe von „Winters Knochen“ entfaltet.

Woodrell schafft es, sich in den Köpfen seiner Leser festzusetzen – durch sein Einfühlungsvermögen, die Trostlosigkeit der von ihm geschaffenen Welt, der Schönheit seiner Sprache und vor allem wegen Ree Dolly. Hervorragend!

„Winters Knochen“ (223 Seiten) von Daniel Woodrell ist im Liebeskind Verlag erschienen und kostet 18,90 €.

Veröffentlicht am: 28.01.2011

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torberg
10.02.2011 21:18 Uhr

Ich bekenne mich schuldig, für die Wucht der Sprache in der deutschen Ausgabe verantwortlich zu sein ... Danke für das Lob.

Grüße PT

miri
23.07.2011 18:28 Uhr

Ein wirklich guter Artikel.So spannend erzählt, dass man bis zum Ende durchliest. Das mit dem Sieb, ich habs richtig vor Augen gehabt...

Wenn ich nicht generell so ein Angsthase wäre, dann würd ich das Buch sofort lesen.