Living Dance Studio mit "Memory" bei Spielart im Werkraum der Kammerspiele

Entschleunigt zu Mao

von Jan Stöpel

Driften im Erinnerungsraum. Foto: Richy Wong

Wer wirklich zurückblicken will, darf sich um die nächsten paar Stunden nicht scheren: Mit "Memory" lässt das Living Dance Studio aus Peking Chinas Geschichte unter dem Kommunismus absolut entschleunigt Revue passieren. Ein eindrucksvoller, insgesamt acht Stunden langer Beitrag über das Phänomen einer Erinnerung, die über die Vergangenheit so viel aussagt wie über die Gegenwart.

Eine Art Quader, aus dünnem Stoff gebildet, ein Tisch mit Nähmaschine darauf, ein Stuhl: So sieht es beim Living Dance Studio und seinem Stück "Memory" aus. So einfach damit das Bühnenbild im Werkraum der Kammerspiele beschrieben wäre, so irreführend wäre jene Beschreibung auch. Denn der Raum weitet sich sehr bald; das ist bald nicht mehr Werkraum, sondern China und viel mehr. Die Produktion öffnet schnell neue Ebenen: Schriftzeichen werden auf den Stoff projiziert. Auch auf der Rückseite des Stoffquaders und auf der Rückwand des Werkraums sind die Zeichen zu sehen - ein Gespinst aus Buchstaben, Erinnerungen, Gedanken. Auch zeitliche Grenzen sind alsbald aufgehoben: Der Zuschauer driftet bald weg, in einen Zustand, in dem das Gestern genauso nah ist wie das Heute. Ein atmosphärischer Raum hat einen da aufgenommen, in dem das Licht eine ebenso große Rolle spielt wie die Klangkulisse, die einen förmlich einhüllt.

So ist man bald in einem Zustand, in dem man der Minuten nicht mehr achtet, die da verstreichen. Was um so erstaunlicher ist, da diese Produktion fast ohne Handlung auskommt. Man sieht Wen Hui, die in totaler Entschleunigung den Oberkörper bald gerade hält, bald in einem absurden Winkel nach hinten absinken lässt. So wirkt das Ganze, als tauche sie immer wieder ein oder auf, als stehe sie gar nicht mit den Füßen auf dem Boden. Der schimmernde Stoffquader wird so zum Erinnerungsraum. Am Tisch sitzt Li Xinmin und näht Sohlen für Stoffschuhe. Sie wird sie später auf dem Boden auslegen. Das sieht dann so aus wie Fußstapfen in einer Tanzanleitung. Es können aber auch die Wegepunkte sein, mit denen sich die Frau einen Weg durch die Brüche der chinesischen Gesellschaft erschließt. Ab und zu schreitet Wu Wenguang herein und erzählt eine Begebenheit, etwa, über die Umstände eines Dokumentarfilms. Dabei bedient er sich Wen Huis als Medium, die, wie eine Gliederpuppe geführt, seiner Stimme Körper verleiht. Immer wieder unterbrechen Propagandafilme die Meditation, mit viel Gesang, Pathos und Tanz. Man glaubt danach zweierlei zu wissen. Erstens: warum die chinesische Pop-Musik nie eine Aussicht hatte, globaler Exportschlager zu werden. Zweitens: Mit welcher Zukunftsfröhlichkeit so mancher Kader seine Karriere begonnen hat.

Heute sind die frischen, sportlichen, heldenhaften Jugendlichen von damals Menschen im fortgeschrittenen Alter. Als ältere Leute erinnern sie sich an die Revolution der Jugend. Und da werden Ebenen sichtbar: An eine traditionelle, von Entbehrung und harter Arbeit geprägte Gesellschaft erinnert sich Wen Hui. Als Kollektiv fast ohne individuelle Schattierungen erinnern sich die ehemaligen Roten Garden, die für einen Dokumentarfilm über ihre Rolle bei der Kulturrevolution Maos sprachen. Kollektive Erinnerungen, persönliche Erinnerugen, Bildfetzen, Zeichen, Text und Subtext: In diesem eindrucksvollen Meditativtheater wird einem klar, aus wie vielen Ebenen sich Erinnerung zusammensetzt. Und auf wie vielen Ebenen der Mensch immer wieder neue Zeichen überschreibt - eine Erinnerung, die in Wirklichkeit aus der Gegenwart stammt.

 

 

Veröffentlicht am: 20.11.2013

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