Theaterreise des Rohtheaters nach Moby Dick von Herman Melville

Mit dem Wal durch die Häuserschluchten Münchens

von Michael Wüst

Leviathan. Foto: Michael Wüst

Moby Dick ist eine mobile Theaterinstallation, eine Theaterreise der Gruppe Rohtheater und beginnt im Theater Blaue Maus in Neuhausen und endet im Container Collective, am Eingang zum Werksviertel-Mitte. Transportmittel ist ein roter Doppeldeckerbus, der auf den Namen "Pequod" hört, so wie das Walfangschiff des Romans. "Call me Ishmael", der Anfang des berühmten Buches Moby Dick, hat Generationen von Literaturkritikern und Lesern gleichermaßen angezogen. Der Autor hatte allerdings rein gar nichts von seinem Meisterwerk, er starb einsam, nahezu mittellos und war als Schriftsteller vergessen.

Das Kreischen der Container. Foto: Michael Wüst

Melvilles Alter Ego bedeutete, Ismael, ist der von der Gesellschaft Ausgestoßene. Nach Bibel, jüdischem Tanach und Koran wurde Ismael, Abrahams erstgeborener Sohn mit Hagar, der Kebse Abrahams in die Wüste verstoßen und gilt den Muslimen als ihr Stammvater. Für den Philosophen Hubert Dreyfus ist Melvilles Ismael verlorener als Odysseus, der wenigstens am Horizont seine Heimat Ithaka hatte. Ismael hat keine Heimat, nicht am Horizont auch nicht einmal virtuell. Es zieht ihn zum Meer, weil es seiner fatalistischen Stimmung entspricht. Bevor er in einem diesigen Winter New Yorks begänne, sich jedem nächstbesten Leichenzug anzuschließen, um den Trauernden die Hüte von den Köpfen zu reißen, fährt er lieber zur See. Er ist im 19. Jahrhundert vielleicht so etwas wie ein erster Vorfahr der postmodernen Menschruinen von Houellebecq.

Die Crew checkt ein. Foto: Michael Wüst

Es ist auch nicht die Natur, irgend etwas, worin sich eine Transzendenz Thoreau'scher oder Rousseau'scher Art erblicken ließe, es ist Wildnis. Es ist eine Wildnis, in der ein polytheistischer unorchestrierter Pantheon sein Unwesen treibt und ein weißer Wal, ohne Gesicht, der der Leviathan der Meere ist - oder Käpt'n Ahabs pathologisches Diktatoren-Unterbewusstsein gar selbst. Härte, Ungerechtigkeit, Willkür werden mit teilnahmsloser Präzision beschrieben. Zigaretten- und Alkoholpausen lassen gleich wieder vergessen. Was den Literaturkenner Bülent Kullukcu (Idee und Konzept) an dem Stoff reizte, ist reizvoll: das kalte Funktionieren im rauen Geschäft zwischen Blut und  Stahl, verbunden fast mit einer Austauschbarkeit von Wut und Entspannung auf mäßigen Levels, das Unbeteiligte einer gleichwohl komplett ins Geschehen integrierten Crew, erinnert ihn an Figuren, Paradigmen der Postmoderne.  Man interpretiert so etwas wie einen vorlaufenden Stepp-Point der urbanen Postmoderne von heute, im Internet, im Meer der Dinge, in der Herrschaft der Dinge.

Was bei Houllebecq Daseinserschöpfung qua Klick auf lieferbaren Sex, optimierte Ernährung und Karriereopportunismus ist, hören wir im Doppeldeckerbus gleichermaßen kalt und präzise aus den Worten von Georges Perec´ Roman "Die Dinge". Verdinglichung, resignative Auslieferung des Begriffs Intelligenz an das digital Messbare, soignierte Langeweile in der smarten Wohnung und Emotionslosigkeit in des Spaßpassagen der intelligenten Stadt. Der später in der Nacht sichtbar werdende, uns begleitende, projizierte Wal orientiert uns bei der Fahrt durch die Gebäudeschluchten an den Fassaden. Die "Pequod" des roten Doppeldeckerbusses bringt uns nach einem Videoauftakt in der Blauen Maus zwischen Walfangbildern und Textpassagen Moby Dick und einem Seemann, der in ärmlich lakonischen Schwarz-Weiß und mit freiem Oberkörper beim Licht einer Glühlampe aus einem Glas frisst, zum ersten, nächsten Ziel. Eingeborene vom Hasenbergl sollen uns gezeigt werden. Bülent Kullukcu gibt als Kapitän mit gelbem Mikro einen unkonzentrierten Reiseleiter, der Mikrophon-Sound ist schlecht, das untermalende Keyboardspiel dudelt grausam. Der gezielt schale Witz von den Eingeborenen vom Hasenbergl ist erfolgreich. Ein belustigtes Raunen geht durch die obere Etage des Busses. Auffällig lange geht die Fahrt, teilweise im Kreis. Teilweise im Kreis drehen sich auch die Texte. Nach Melville-Passagen und Zitaten aus dem Roman "Die Dinge" von Georges Perec, salbadert wohlmeinend Gesellschaftskritisches und Altruistisches von Erich Fromm und Herbert Marcuse nebst anderen Fundsachen über die Qualität des Digitalen und Probleme der Künstlichen Intelligenz.

Die mittlere Tonqualität, das Rattern des Busses und der Blick nach draußen versetzen einen in einen passiven Zustand, in dem die Bilder einer Stadt München eindringen. Ein Effekt, der sich später rückwirkend als eine der großen subversiven Qualitäten dieses Reisetheaters erweisen wird. Im Dämmern des Reisenden, was kümmern da eigentlich die Warnungen der Humanisten, man will erstmal ankommen, dann sieht man weiter.

Der Wal ist in der Bar gestrandet. Foto: Michael Wüst

Dann bei den Eingeborenen des Hasenbergl, bescheidenes, sauberes, leicht getäfeltes Kleinstvestibül. Abgang in den Keller. In der Waschküche ist wieder ein gesellschaftskritischer Merksatz an die Wand geworfen, daneben geht es in einen UV-blauen Raum. Reiseleiter Ahab sitzt im Eck und rezitiert mit heruntergepitchter Stimme - vielleicht will er in seiner wirklichen Identität nicht erkannt werden - Kritisches über die Welt, KI und Digitales. Wäre hier nicht auch eine kleine Brotzeit ganz nett gewesen, vielleicht was Landesübliches? Stattdessen beginnen Anton Kaun und Dominik Obalski weberknechtartige Hampelmänner von der Decke herabzulassen, die zur knarzenden Musik von Reiseleiter Ahab auf dem Boden klappern und steppen. Marionetten, sind das wir? Oder unsere Feinde? Untergang? Anton Kaun, wie immer recht diabolisch, setzt sein sinistres Spielzeug dazwischen. Ein Zehnjähriger, der am Boden sitzt, sieht traurig aus.  Zurück im Bus, Textmantras, Sermon der richtigen Position, mit Blick in die Stadt auf Menschen, die unsere Blicke in einer Art belästigten Interesses erwidern. Das Meer der Dinge mit seinen illuminierten Konsumsignalen leuchtet auf. Überall gibt es was. Manchmal entdeckt man Pretiosen aus der alten Welt, wie "Die kleine Kneipe" in Obergiesing. Vorher hatten wir noch einmal angedockt in der Claude-Lorrain-Straße. Da findet das Kollektiv zu einer deutlichen Installationssprache. Zur insistierenden E-Oud mit Keyboards, laufen erst Bilder aus Anton Kauns heiler Welt eines Bürger-Spielzeugparks, dann ein Film des Straßenverkehrs. Objekte, Menschen werden für Aliens eingescannt in optische Kästen, in denen zur Erläuterung dann steht: Person, Bicycle, Bus usw. Eine starke Verdichtung, nach den indirekt, subversiv konzipierten Momenten. Am Schluss, Heimathafen Container Collective im Werksviertel-Mitte am Ostbahnhof. Sicherheitskräfte winken uns durch zu Dominiks Barschule. In den Eisenkästen des globalen Warenverkehrs feiern die Leichtmatrosen des Neu-Urbanen. Völlige Ausgelassenheit. Bülent Kullukcu liest vom Blatt eine Zornespredigt, eine Suada der Wut über Fakten, Fakten, Fakten, Hass und Hass und Hass. Dazu reicht man Portwein auf Eis mit Tonic und einem Schnitz Orange. Bülent verstummt. Das Publikum stumm. Im Hintergrund läuft ein Hobbyfilm irgendeines kleinen Gewässers. Dann bricht der Film ab. Applaus von den Eingeborenen. Großartig!

Nächste Vorstellungen: 27.07. und 27.09. 2018 im Theater Blaue Maus, Elvirastraße.

Veröffentlicht am: 25.07.2018

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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