Hamlet am Residenztheater

Schein oder Nichtschein

von Michael Weiser

Junges Denken, altes System: Ophelia (Linda Blümchen) und Gertrud (Sibylle Canonica). Foro: Hupfeld

Es war schön, wieder im Theater gewesen zu sein. Und sonst? Der "Hamlet" am Residenztheater überforderte viele Zuschauer. Egal, irgendwie: Es bleiben ein, zwei Bilder haften. Und der Eindruck vom Leben als einem einzigen Missverständnis. Natürlich war das putzig, wie die Schauspieler, Pennälern auf Schulausflug gleich, von der Bühne strömten und einem großen Plastik-Elefanten das Geleit gaben. Da wanderte das transparente Plastik-Rüsseltier von Hand zu Hand, über die Sitzreihen, bis hinauf zum Balkon und danach zurück ins Parkett und dann wieder auf die Bühne, wo man dem Riesen die Luft ausließ.

So kann man auch umgehen mit dem "Elefanten im Raum", dem einen gewichtigen Thema, über das niemand sprechen will, weil jeder die Konsequenzen fürchtet. Also albert und spielt des Claudius Hofstaat eher herum, als dass er sich dieser offenkundigen Wahrheit widmet: dass da ein Prinz von Dänemark ist, der auf Rache sinnt.

Putzig, wie gesagt. Und von überschaubarem Erkenntniswert. Es drängte sich der Eindruck auf, dass da einige Leute Zeit zum Grübeln gehabt hatten, sehr viel Zeit sogar. Und dass ihnen in der Eile der letzten  Tage vor der coronabedingt späten ersten Premiere des Jahres dann die Kraft fehlte, sich vom einen oder andern Einfall zu trennen.

Robert Borgmanns "Hamlet" am Residenztheater bot trotzdem viel. Atmosphärische Livemusik von Rashad Becker und Valerio Tricoli zum Beispiel. Oder wirklich ganz elegante, großartige und aus purem Licht gehauchte  Szenen (Gerrit Jurda). Manchmal bot Borgmann aber auch einfach zu viel. Der Einfall, die Dada-Band Trio mit ihrem "Da, da, da"  zu zitieren, störte mit ihrer unsagbaren Albernheit einen Abend, der ohne gut hätte funktionieren können.

Vielleicht ist das aber auch ein beabsichtigtes Missverständnis. So wie das Treiben auf der Bühne. Hamlet (Johannes Nussbaum) und auch Ophelia (Linda Blümchen) sind eher die moderneren Menschen, von Zweifel geplagt, alles zitierend, für nichts einstehend. Linda Blümchens Gesangseinlage gehört zu den Höhepunkten des ganz und gar nicht langwierigen Abends. Dass sich Claudius (Christoph Franken) und die Hofleute dysfunktional herumkugeln wie Kasperln, deren Fernbedienung verrückt spielt, ist womöglich dem Altersunterschied geschuldet: Man versteht einander nicht mehr, so vom Zeitalter Heinrichs VIII. zu uns heutigen Zweiflern (Kostüme Bettina Werner).

Man sieht ein Spiel und ahnt ein Desaster. Wer könnte in einem solchen Wahnwitz noch an Vernunft als Konsequenz denken? Robert Borgmann verweigert jede logische und chronologische Nacherzählung. Alles ist der Versuch einer Kontaktaufnahme, der in Missverständnis mündet. Ist das die Wurzel von Hamlets Melancholie? Der schmeißt er sich sozusagen mit Verve entgegen, mit kühnem Sprung auf den Polyeder, der direkt aus Dürers Grafik "Melancholia" entnommen ist.

Dem Hamlet erscheint der Geist des gemeuchelten Vaters. Der wühlt in einer Pappkiste wie in Erinnerungen, blickt auf wie das nackte Elend und sieht seinen Sohn Hamlet, dem die Verständigung mit dem Alten durchaus unmöglich ist. Vielmehr als "Adieu" und "gedenke meiner" kann der Junior denn auch nicht im Gedächtnis behalten haben. Gewinnt er überhaupt letzte Sicherheit, dass sein Vater von Claudius ermordet worden sei? Das finale Massaker - ist es real? Oder nur ein Arrangement aus Schädeln, Blumen und Flitter, wie uns die Projektionen glaube machen könnten (Video, Krzysztof Honowski).

Es sind Traumbilder, die Borgmann auf die Bühne stellt. Alles geschieht und erinnert an Details aus dem richtigen Leben, aber nichts passt zusammen. Ein Mensch, der sich seiner selbst nicht sicher ist und nicht dessen, was er hört und sieht, stolpert und turnt durch ein Labyrinth, aus dem es keinen Ausweg gibt. Das ist, kurz vor Schluss etwa, als die Figuren des Dramas, in strenger Ordnung aufgestellt, von oben angestrahlt werden, von großartiger Wirkung: ein Lichtgewitter, das die Isolation der Figuren viel mehr betont als irgendwelche Verbindungen zu illustrieren.

Borgmann hakt zuverlässig die bekanntesten Sätze der Zitateschleuder "Hamlet" ab. In dieser quasi zeit- und handlungslosen Innenschau wirken sie wie Schlaglichter. Ein kurzes Aufleuchten im Gedankennebel. Horatio tritt auf, mit der Nüchternheit einer Chefsekretärin (Katja Jung). "Hier brach ein edles Herz", sagt sie. Meint er, meint sie das ernst? Und wenn sie es ernst meinte, meinte sie dann Hamlet? Der Rest ist dann doch nicht Schweigen. Sondern eine Frage: Was genau haben wir da eigentlich gesehen?

Veröffentlicht am: 26.05.2021

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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