"Like Lovers do" an den Kammerspielen

Klasse und Gleichgewichtsgefühl

von Michael Weiser

Tanz und Verrenkung: Medusas-Gedächtnisneutronen wirbeln sich und andere durcheinander. Foto: Krafft Angerer

Gelungener Balanceakt in den Kammerspielen: Pinar Karabuluts quietschbunte Inszenierung von "Like Lovers Do" von Sivan Ben Yishai schont den  Zuschauer, wo der Zuhörer vom Text allein überfordert wäre. Denn der ist wie ein Schlag ins Gesicht.

Es geht um eine Vergewaltigung. Eine Frau schildert, wie junge Männer sie missbrauchen. Einer filmt das Ganze und stellt die Aufnahmen ins Internet. „Die Gesichter seiner Freunde waren verpixelt, meines nicht.“ Und da lacht jemand im Publikum, es hört sich ungläubig oder schockiert an. Jedenfalls nicht amüsiert. Und dieses Lachen sagt etwas aus über den Abend in den Kammerspielen, es sagt etwas aus über Pinar Karabuluts Inszenierung von „Like Lovers Do. Memoiren der Medusa“. Der Text ist eigentlich eine Zumutung, vor zehn, zwanzig Jahren hätte es Probleme damit gegeben, Protest wahrscheinlich. Wie vor vielen Jahren bei Luc Percevals „Othello“-Inszenierung.

Aber, und auch das zeigt sich in diesem Moment, die Zeiten haben sich geändert und in ihnen das Publikum.

Es scheint bereit, sich den Fragen zu stellen, die Sivan Ben Yishais Text aufwirft: nach Sexismus in der Sprache, nach den Denkfallen in den eingefrästen Rollenmustern, verinnerlichten Hierarchien und eingeübten Unterscheidungen. Die Vorstellung etwa, dass eine Frau „erobert“ werden wolle, ein „Nein“ also nicht ein „Nein“ bedeutet, sondern einen Teil eines Rituals. Oder der Gedanke, dass die Opfer von Gewalt dem „schwächeren Geschlecht“ angehören, dass damit auch Männer gar nicht Opfer von sexualisierter Gewalt werden können. Oder der Vorwurf, eine Frau habe sich Gewalt selbst zuzuschreiben – hätte sie halt mal was Längeres angezogen.

Der Text ist wie ein Schlag ins Gesicht, in seiner Kompromisslosigkeit der Brutalität des tatsächlich Geschehenen entsprechend. Wegen dieser Kompromisslosigkeit hätte 2020 ein Stück von Sivan Ben Yishai beim Festival „Radikal Jung“ gezeigt werden sollen. Wie jeder weiß, kam es anders, Corona kam über die Welt, es war auch bei der Verkündung des „Radikal-Jung“-Spielplans von 2020 noch eine andere Zeit.

Die Inszenierung leuchtet die Abgründe des Textes nicht aus, es bleibt bei expliziter Sprache, für die aber eine eigene Trigger-Warnung mitgeliefert wird – sie könnte Traumatisierte erneut verstören. Natürlich macht die Truppe auch daraus gleich einen Scherz, Trigger-Warnungen verkaufen sich ja schließlich gut. Es wird gezwinkert, es wird ganz wunderbar Spaß getrieben, und es ist vermutlich gleichermaßen ein Beleg für die Klasse des Ensembles und für Karabuluts Gleichgewichtsgefühl, dass das Stück nicht kippt.

So locker bleibt der Abend, so schreiend poppig. Man kann sagen, Pinar Karabulut habe Gumminoppen über die Kanten, Schneiden und Spitzen des Textes gelegt. In der bonbonbunten Verpackung verbirgt sich auch noch eine Botschaft: Sex und Gewalt sind schließlich auch Bestandteile des medialen Unterhaltungsbetriebs. Auch und vor allem in den sozialen Medien: Da wird das Privateste, das Persönlichste zum öffentlichen Zirkus.

Das Ensemble, eingehüllt in geschlechtsneutrale Klamotten à la Raumschiff Enterprise (Kostüme Teresa Vergho), ist großartig. Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kulic, Bekim Latifi, Edith Saldanha und Mehmet Sözer veranstalten als geschlechtsneutrale Erzähl-Partikel so etwas wie eine Revue, sie tanzen, sie sprechen, sie wechseln die Rollen, sie legen ihre Textteile zu einem Gewebe übereinander.

Bekim Latifi darf sich nach einer furiosen Runde mit Finale im Pool Szenenapplaus abholen. Die Fünf sind die Neutronen im Gedächtnis der Medusa. Die ruft sich in einem Rachegesang gleich eingangs den Akt ihrer Vergewaltigung in Erinnerung. "Dieses Lied ist dem gewidmet, der mich in einem Flur voller Schlangen fickte, bis meine Augen weiß und zu Knochen wurden. Und mich unter Wasser zog, und meine Haut färbte sich grün." So düster und zugleich lyrisch erinnert sich Medusa an die Gewalt, die der Meergott Poseidon ihr angetan hat. Der Test ist nicht nur an dieser Stelle stark und er ist auch insgesamt vielschichtig und reich an Anspielungen. Wiebke Puls ist in den reflektierenden Passagen der Memoiren als „Stimme“ sehr präsent. Sie ist die starke Stimme jener, die den Engel erschlägt: das tugendhafte Urbild der perfekten Frau.

Die aktuelle Verfasstheit der Gesellschaft überwindet ein Akt grandioser Albernheit. Vom Bühnenhimmel schwebt ein Auto als Ufo in den Tempel, dessen aufblasbare Säulen mittlerweile postcoital erschlafft sind (Bühne Michela Flück). Die Protagonisten tragen mittlerweile Kostüme, die mal an Amöbe, mal an Königin der Nacht erinnern. Sie sind neue Lebensformen. Oben, auf der LED-Anzeigetafel, läuft der Countdown für die Reise in eine neue Welt: Bald werden sie Raketen gleich in den Himmel fahren..

Dann passiert etwas, was auf offener Bühne absolut selten ist: Es erscheinen Bühnenarbeiter. Und die werkeln nicht nur, weil da eben bühnenarbeitstechnisch etwas zu erledigen ist, nein, sie fügen sich sinnvoll ins Spiel ein. Die fünf Schauspieler steigen in den Himmel auf und entschwinden gen Schnürboden.

Und die Bühnenarbeiter – sie winken den Entfleuchten tappig hinterher. Fünf Mannsbilder, die nach dieser flotten Scheidung so einigermaßen ratlos wirken.

Veröffentlicht am: 15.10.2021

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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