"In the Name of" an den Kammerspielen

Geraubte Kinder - auf der Spur des größten unbekannten Verbrechens

von Michael Weiser

Die Litanei von geraubtem Kind und gestohlener Kindheit: Lisa Marie Stojčev. Foto: Armin Smailovic / Agentur Focus

Der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche macht "In the Name of" an den Kammerspielen eigentlich zu einem Stück der Stunde. Der Text über den Kinderdiebstahl im großen Maßstab berührt dennoch nur teilweise - das Großverbrechen bleibt eine abstrakte Angelegenheit.

Im Foyer des Werkraums, genauer: am Schalter erfährt man eigentlich schon das meiste: Es sind Kinder, sehr viele Kinder verschwunden, geraubt worden, aus ihren Familien gerissen und woandershin verpflanzt worden. Und Kinderraub ist kein Verbrechen einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Zeit oder von bestimmten Typen von Verbrechern begangen - er ist fast schon ein Normalfall der Geschichte.

Vor allem: Kindesraub im großen Maßstab geschieht und bleibt ohne Strafe, wenn er ins Gewebe einer Gesellschaft eingearbeitet ist, sozusagen zur Kultur gehört. Eine Weltkarte hängt da, neben Zeitungsausschnitten und Protokollen mit Aussagen von Zeugen: In Australien und Kanada, im Kongo und in Algerien, in der DDR und in Spanien ist das zehntausendfach geschehen, und die Liste könnte man fortsetzen. Ja, Kindesraub ist Sache der gesellschaftlichen Kultur, aber nicht einer bestimmten.

Das Wissen um diesen eigentlich unfassbaren Skandal ist längst nicht Gemeingut. Spanien etwa; noch immer arbeitet man Francos Krieg auf. Noch immer sind die Gräber vieler Ermordeter nicht gefunden. Dass aber auch noch Zehntausende von Leben verwüstet wurden, weil das Regime Kinder seinen ideologisch unzuverlässigen Eltern nahm und sie in neue Familien steckte, dringt vermutlich erst langsam ins Gewissen. Bis zu 300.000 Kinder "entwendet", aus Gründen der Politik und des Geschäfts: Das Verbrechen erreicht nicht nur in diesem Fall eine Dimension, die es dem Begreifen entzieht.

Was gibt es darüber zu sagen? Alles. Oder nichts. Das ist die Crux von Liat Fassbergs Text "In the Name of". Die Erzählform verstört und fasziniert, der Abend in der Regie von Joel-Conrad Hieronymus lässt einen zugleich aber sprachlos zurück.

Die Bühne (Leonard Mandl) ist eine Mischung aus Höllenraum und Mutterleib, psychiatrischer Anstalt und Heim,  bedeckt mit Filzstücken, die Wärme spenden können, aber doch an Berge zerfledderter Akten erinnern. Darauf entfaltet Fassbergs Text in  manchen Passagen Gewalt.

Zitate und Fragmente von Zitaten, oft nur einzelne Wörter, Kommentare und Gesetzestexte, Berichte, Anklagen und Schnipsel wohl formulierter Ausreden ergeben ein Mosaik, so düster wie verwirrend. So verwirrend sogar, dass man die Übersicht verliert.

Sind wir noch in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts, in denen Kinder verarmter Einwanderer gestohlen oder verkauft wurden? Oder schon bei Dr. Neubauers Forschungen über unterschiedliche Entwicklungen zwangsgetrennter Zwillinge? Ach, ist das schrecklich. Was will man sonst auch sagen und denken? Man ist ergriffen, man ist bewegt, doch ohne von der Stelle gekommen zu sein.

Auf einmal ist man in einem spanischen Kinderheim. Svetlana Belesova ist in dieser Episode eine bigotte, hartherzige Nonne, eine hagere Gestalt wie aus dem Bilderbuch des Schreckens. Natürlich haben katholische Geistliche und Nonnen in vielen Ländern und erst recht in Spanien Schreckliches begangen. Ob dem die Karikatur eines Nonnen-Regimes Erkenntniswert hinzufügt?

Der Text senkt sich so bleischwer aufs Gemüt, dass es schon der pathosfernen Souveränität von Routiniers wie Edmund Telgenkämper und Bernardo Arias Porras bedarf, damit er nicht unverdaulich wird.

Am Ende ist das Erschreckendste mal wieder diese Banalität: Es ist erstaunlich, wie tief Gesellschaften fallen können. Es ist noch erstaunlicher, wie viel Wohlwollen und Mittun von Menschen mit bestem Gewissen notwendig sind, damit das Böse solche Blüten treiben kann. Wie können vermeintlich zivilisierte Gesellschaften etwas dieser Art zulassen?

 

 

Veröffentlicht am: 18.04.2022

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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