Das Frühlings-Festival am Volkstheater

Radikal Jung wird gemäßigt älter

von Michael Weiser

Schwere Themen, leicht verhandelt: "Sistas". Foto: Kamil Janus

Radikal Jung, das war mal das Festival für junge Wilde. Was ist es heute? Nach der Auflage 2023 lässt sich vermuten: Die Avantgarde hat sich selber eingeholt und hält inne. Was ganz und gar nicht auf Kosten der Qualität geht.

Was haben wir seit 2005 nicht alles gesehen bei Radikal Jung, dem Kult-Festvial am Münchner Volkstheater, dem Treffen der jungen Theatermacher, von kleinen und von großen Häusern, für Münchner Theatergeher so etwas wie der Start in den Frühling, für junge Regisseure nicht selten der Durchbruch. Wir haben gesehen, vor Corona: Theater ohne Darsteller, Theater ohne Worte, in-  und exklusives Theater, Theater ohne Handlung. Theater ohne Theater, dafür mit Motorrädern. Unter anderem.

Aktuell sahen wir: Theater in klassischem Gewand. Kein Aufstand der jungen Wilden. Eher ein Auftritt der jungen Nachdenklichen. Mitunter gediegen, oft konventionell, mitunter virtuos. Handwerk halt. Ist das schlecht? Nein. So lange die Inhalte relevant bleiben.

Etwa bei "Sistas" von Golda Barton, einer Ko-Produktion von Glossy Pain und der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Hat natürlich etwas mit den "Drei Schwestern" von Tschechow zu tun, nicht nur des Sehnsuchtsrufs wegen, der diesmal allerdings nicht Moskau gilt, sondern den USA. Was ist Heimat, und wann gehört wer dazu? Und was ist mit den Andern? Isabelle Redfern und Katharina Stoll bringen furchtbar schwere Themen wie Rassismus, Sexismus und Klassismus wunderbar leicht auf die Bühne. Mit Tempo und Charme, für die vor allem Pianistin MING - die im Stück als vorgebliche Koreanerin und tatsächliche Thailänderin das Asiatinnen-Klischee gleich doppelt bricht - und Amanda Babaei Vieira verantwortlich zeichnen, kamen die Berliner in München am besten an: Sie holten den mit 4000 Euro dotierten Publikumspreis.

"Das Ereignis", in der Originalbesetzung mit Josefine Israel, Sandra Gerling und Sasha Rau. Foto Sinje Hasheider

Ist das der Zauber der kleinen Spielstätten? Auch "Das Ereignis" wurde auf Bühne 3 des neuen Volkstheaters gespielt und erntete viel Beifall. Unter der Regie von Annalisa Engheben gelingt es Josefine Israel, Sasha Rau und Maja Beckmann (die für Sandra Gerling eingesprungen war), den Text von Annie Ernaux aus dem Jahre 1963 ganz gegenwärtig wirken zu lassen. Die drei klettern über und winden sich unter die Skulptur in der Mitte der Spielfläche (Bühne: Sanghwa Park), die aus wie im Widerstreit gegeneinander verbogenen und verspreizten Extremitäten besteht. Die Geschichte der Erfahrung von unerwünschter Schwangerschaft und unerlaubter Abtreibung führt Akteurinnen und Zuschauer an die Grenzen. Und macht in einem anspruchsvollen Kammerspiel brutal deutlich, gegen welche Machtstrukturen Frauen kämpften und noch kämpften.

Geschichten einer Familie: "Dschinns". Foto: Maximilian Borchardt

Persönliches, Lebensgeschichten und europäische Migrationsgeschichte verwebt Fatma Aydemir in ihrem Roman "Dschinns". Das Nationaltheater Mannheim bringt ein auf der Bühne zerlegbares Haus (Bühne Lydia Merkel) nach München, mal Schauplatz für die Einigung der Familie, mal Sinnbild der Zersplitterung. Und auf diesem großzügigen Spielfeld lässt Regisseurin Selen Kara den Text von Fatma Aydemir gleichsam ziehen. Ein Familienepos über 30 Jahre, von der Zeit, da es noch "Gastarbeiter" gab bis hin zur Gegenwart, da die zweite, dritte Generation von Einwanderern um ihre Identität ringt. Eine klischeebefreite, spannende Geschichte - mit Längen in der zweiten Hälfte.

Keine Heimat, nur eine Haltestelle: "Odysse". Foto: Sandra Then

Man kann "Odyssee", einer "Inszenierung mit Menschen aus der Ukraine und aus Düsseldorf" vom Düsseldorfer Schauspielhaus in der Regie von Stas Zhyrkov eines sicherlich nicht vorwerfen - dass sie ihr Thema mit postmodernem Unernst angehe. Die Geschichte des Helden, der nach dem Krieg nicht nach Hause findet, erzählt Pavlo Arie quasi umgekehrt: ein Bericht aus der Perspektive der Penelope, und keine Saga von der Heimkehr aus dem Krieg, sondern Erzählungen von Fluchten ins Ungewisse. Es war nicht alles gut, damals in der archaischen Zeit, es ist erst recht nicht alles gut in der gegenwärtigen. Man mag, man muss den Ukrainern zugestehen, ihre Geschichte und Geschichten mit heiligem Ernst zu erzählen. Die Pathos-Packung wäre dennoch ohne eine mitreißende Dosis Punk nicht zu packen gewesen.

Bitterböse Realsatire auf Tiroler Steilvorlagen: "Gondelgschichten". Foto: Birgit Gufler

Wie nahe Weinen und Lachen zusammenliegen, die "Gondelgeschichten" vom "Institut für Medien, Politik & Theater" zeigen das anhand des Beispiels von Ischgl und dem Tiroler Skizirkus. Wie umgehen mit Corona und den Folgen des Klimawandels? Antje Weiser, Jan-Hinnerk Arnke, Florian Granzner und Kristoffer Nowak legen einen beeindruckenden Parforce-Ritt hin, durch ein Land der weißen Schneespuren auf braunen Hängen ummodelierter Berge, mit lieblosen Bettenburgen, beherrscht von einer Filzokratie mit groteskem Selbst- und Sendungsbewusstsein. Es ist glücklicherweise alles so lustig wie in der Piefke-Saga und leider wohl alles so wahr, wie man es immer und überall befürchten musste. Politik, Fremdenverkehr und mächtige Macher verkaufen das Land. Doch da wurde ein Bürger:innen-Komittee zusammengelost, das Wege aus dem Imageschaden weisen soll. Ein schier aussichtsloses Unterfangen. Die Tiroler könnten den Machern dieser glänzenden Satiere böse sein, ob der abstrusen Einfälle und finsteren Machenschaften, die sie den Strippenziehern unterstellen. Doch diesen Text über Gier, Größenwahn, Rücksichtslosigkeit, Ignoranz, joviale Brutalität und schamloseste Jodel-Folklore haben Tiroler Touristiker und Politiker schon weitestgehend selbst verbrochen. Sie gaben schließlich die Stichworte. Das "Institut" musste nur lesen und hören - und alles zu einer gekonnten Collage zusammenführen. Mein Favorit bei Radikal Jung  2023.

Magisches Moskau: "Der Meister und Margarita". Foto: Candy Welz

Der Teufel kommt nach Moskau und treibt sein Schindluder mit bräsigen Bürgern, aufgeblasenen Lyrikern und korrupter Nomenklatura, bringt Jesus und Pontius Pilatus zusammen und erlöst den Meister und Margarita zu ewiger Liebe: Michail Bulgakow schrieb mit seinem Faust-Roman eine russische Jahrhundert-Erzählung. Auf die Bühne bringen kann man diese dreifach ineinander verzwirbelte Geschichte eigentlich kaum. Luise Vogt setzt in ihrer Inszenierung für das Deutsche Nationaltheater Weimar auf Kürzung (sie nimmt notwendigerweise Substanzverlust in Kauf) - und eines der besten Bühnenbilder, das ich in den vergangenen 20 Jahren gesehen habe: Natascha von Steiger modelliert aus den Wänden eines Moskauer Hinterhofs ein liegendes Achteck, über das die Akteure an die Rampe marschieren, tänzeln, fallen und zappeln. Das Bild saugt den Zuschauer förmlich an, es bietet freie Fläche für Assoziationen, hat viele Fenster für Überraschungen, und schließlich wohnt dem Weg hinauf und hinunter über die Hauswände sein eigenes Ziel inne: Magier Voland hebt schließlich (auch im Roman) physikalische Gesetze mit spielerischer Leichtigkeit auf. Ein starkes Ensemble - herausragend Krunoslav Šebrek als Voland, der seine Bösartigkeit mit lässiger Großzügigkeit längst als Teil eines göttlichen Plans akzeptiert hat - liefert einen starken Abend.

Spiel mit Masken und Idenditäten: "Mein Leben in Aspik". Foto: Arno Declair

Eine wahrlich groteske Biographie der vielen, das Chaos eines Familienclans in chaotischer Zeit: "Mein Leben in Aspik" - Friederike Drews hat Steven Uhlys Roman auf die Bühne des Deutschen Theaters Berlin gebracht - ist eine atemlose, eine oft sehr komische und immer wieder auch ziemlich unübersichtliche Jagd durch die Labyrinthe verschiedener Zeitebenen, in dem die Masken auf den Gesichtern der beiden Darsteller ebenso wie die Idenditäten andauernd wechseln. So kann man eine ziemlich wunderliche und etwas liderliche Biografie auch erzählen. Auf den Spielplatz hat Bühnenbildnerin Ev-Simone Benzing ein karges Klettergerüst gestellt. Darauf und davor zeigen Simon Brusis und Susanne Jansen die spielerisch vielleicht stärkste Leistung des Festivals.

Dominanz durch Unterordnung: Dan Daw. Foto: Hugo Glendinning

75 Minuten Spiel von Dominanz und Unterordnung, am Ende - Befreiung. Das Konzept des Performers und Choreografen Dan Daw mutet radikal an. In der "Dan Daw Show" ordnet sich Dan Daw in einem Abend von erotischer Annäherung seinem Mitspieler Christopher Owen unter, um schließlich Kontrolle zu erlangen. Eine Performance mit lauter Musik und leisem Spiel und leider auch mit Längen. Aber - ein Angebot, kein Befehl. Botschaften von Diversität kommen selten so unaufdringlich daher. Sympathiepunkte für Dan Daw.

Zeitgeistig: "Grm. Brainfuck." Foto: Birgit Hupfeld

Breitbeinig kam "GRM. Brainfuck" vom Theater Dortmund rüber. Regisseur Dennis Duszczak hat aus einer Dystopie von Sybille Berg eine Zeitgeist-Revue gemacht, mit viel Gezappel bei wenig Bewegung. Wie erleben Trostlosigkeit in England, den Versuch des Ausbruchs, die totale Mediendiktatur  - und schließlich die Revolution der Hacker. Revolution als Attitüde: Kein ganz und gar schlechter Abend, aber eben möchtegernjung und damit zu wenig für ein so radikal junges Festival wie das in München.

Geister der Vergangenheit beschwören: "Zwiegespräch". Foto: Susanne Hassler-Smith

Fein choreographiertes Theater hatte das Festival eröffnet: "Zwiegespräch", nach einem Text von Peter Handke. Der ist mittlerweile selber in die Jahre gekommen und mag den Dialog mit Geistern der Vergangenheit und der Erinnerung pflegen. So wie Peter Handkes Alter Ego, das sich im Altersheim wiederfindet. Pfleger und Pflegerinnen dirigieren ihre Klientel im Rollstuhl tänzerischen Schrittes über Flure und positionieren sie zwischen Topfpflanzen. Das Alltagseinerlei unterbrechen Spielenachmittage.  "Reise nach Jerusalem", wer nicht zum Sitzen kommt, geht. Für immer. In seinem Design, mit diesem Wechsel von entsättigten und bonbonbunten Farben, dem Einbeziehen des Publikums im allerletzten Bild - wir sind es, für die der Vorhang runtergeht - ein ehrgeiziger, radikaler und anspruchsvoller Abend, den bei "Radikal Jung" die Wirklichkeit ein Stück weit einholte: Weil einer der betagten Schauspieler offenbar vom ersten Satz an indisponiert war und nur noch mit Souffleur-Unterstützung sprach, warf es fast das gesamte Team aus der Kurve. Das war's dann mit dem theatralen Uhrwerk, das Regisseurin Rieke Süßkov fürs Burgtheater Wien zusammengeschraubt hatte.

Bilder zweier Liebender: "Radical Hope. Eye to Eye." Foto: Nathan Ishar

Wo ließ sich das "Radikale" bei diesen Festspielen der jungen Regie noch entdecken? Radikal fallen lassen konnte man sich bei "Radical Hope - Eye to Eye" von Stev van Looveren. Das Leiden im Korsett des Kanons der Bildenden Kunst, der Aufstand gegen das Vorgebildete, die Konvention: So konnte man das Vorspiel betrachten, ein performatives Bachanal war's im überbordenden zweiten Teil. Ein Angebot, sich zu verlieben oder sich abzuwenden, hin- und herzuwandern, an einem Ort zu staunen oder sich einer neuen Perspektive zuzuwenden. Mit einem wirklich beeindruckenden Schlussbild zweier Liebender im überdimensionalen Geschenkköfferchen.

Game over: "Woyzeck". Foto: Kerstin Schomburg

Nicht ganz vom Konzept her, aber radikal - im Sinne von an die Wurzel gehend - war Jan Friedrichs Inszenierung von Georg Büchners "Woyzeck" fürs Theater Magdeburg: die Leiden des jungen Wertlosen als Videospiel. Immer wieder nimmt Woyzeck einen Anlauf, scheitert zwei-, dreimal bei seiner Mission. Ein gruseliges, bedrückendes Treiben der Avatare, bis Woyzeck, die Optionen des Spiels hinter sich lassend, das Messer zückt. Ein befreiendes Massaker, sozusagen.

Auf der Suche nach dem Echten: "8 1/2 Millionen". Foto: Konrad Fersterer

Das Volkstheater München war als Gastgeber mit Mathias Spaans Fassung von Tom McCarthys Roman "8 1/2 Millionen" vertreten. Zur Kritik der Premiere im Kultur1vollzug geht es hier lang: "Achteinhalb Millionen" am Volkstheater nach dem Roman von Tom McCarthy: Auf der Suche nach dem Wirklichen und Echten.

Veröffentlicht am: 14.05.2023

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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