"Radikal Jung" am Volkstheater

Eine ziemlich bunte Woche

von Michael Weiser

Lärm und Farben: "Karneval", von Joana Tischkau am Theater Oberhausen inszeniert. Foto: Katrin Ribbe

Neustart für Radikal Jung, das Festival der jungen Regie am Volkstheater München: Es gewinnt ein Stück aus Münchens Partnerstadt Kiew, es überzeugt die Vielfalt der Theaterwoche.

Gott hat mit der Sache nichts zu tun. Man sieht links oben sein Wohnzimmer, Röhrenfernseher auf einer Kommode, Sessel davor, ein Wandteppich mit dem Konterfei seines Sohnes. Man könnte sich den alten Herrn vorstellen, wie er sich in der Glotze was ansieht. Ganz gemütlich. Aber das Wohnzimmer bleibt leer.

Die Menschen da unten auf der Erde, sie strampeln derweil und klettern, auf einer schiefen Ebene versuchen sie, nach oben zu gelangen in dieses Kämmerchen. Aber sie schaffen es nicht, sie rutschen wieder ab, und selbst wenn sie’s schafften – er wäre wie gesagt nicht da. Während des ganzen langen Abends zeigt er sich nicht. „Bad Roads“, eine Produktion vom Left Bank Theatre Kyjiw in der Regie von Tamara Trunova, könnte, so betrachtet, auch so etwas wie eine ukrainische Version von „Warten auf Godot“ sein.

Das Stück aus Münchens Partnerstadt hat den Publikumspreis der ersten Nach-Corona-Auflage von „Radikal Jung“ gewonnen. Es war eine Inszenierung mit starker Bildsprache. Man darf dennoch spekulieren, ob der Publikumspreis bei „Radikal Jung“ nicht auch dem Schicksal der Ukraine geschuldet ist. So viel Emotion auf der Bühne und auf den Plätzen ist nicht immer, nicht immer gibt es in München so viel landsmannschaftliche Unterstützung für eine Produktion: Putins Krieg schweißt auch die Auslands-Community zusammen.

Radikal, wenn auch nicht jung

War „Bad Roads“ radikal jung? Regisseurin Tamara Trunova ist es mit 40 Jahren – mit Verlaub - eher nicht, auch das Stück fiel aus dem Rahmen, es wirkte in seinem Pathos, seiner bleischweren Ernsthaftigkeit geradezu aus der Zeit und dem üblichen Programm gefallen. Eine Irritation in einem Unterhaltungsbetrieb, der auch Tragik gerne eine ironische Note abgewinnt. Die Akteure stellen keine bloße Behauptung auf die Bühne, sie schildern Geschichten, die vermutlich ukrainische Realität widerspiegeln. Als sie zum Beifall auf die Bühne treten, haben sie Tränen in den Augen und halten eine große ukrainische Flagge hoch.

Auch wenn Putins Angriffskrieg dem Stück traurige Aktualität verleiht – es ist schon einige Jahre alt. „Bad Roads“ reiht Episoden aus einem vom Krieg zerrissenen Land aneinander, die immer wieder ins Surreale und Absurde abgleiten. Mit „Bad Roads“ sind nicht nur mit Schlaglöchern übersäte Pisten gemeint, es sind vielmehr die Holzwege, auf denen sich die Protagonisten befinden. Sie führen, wenn überhaupt, in eine Richtung, nur bergab. Eine sperrige Theatererfahrung, und somit doch auf seine Art radikal.

Neuland mit vertrautem Namen

„Radikal Jung“ 2022 bedeutete  in vielerlei Hinsicht Neuland. Es ging über die Bühnen eines neuen Volkstheaters, immer noch beeinträchtigt durch die Corona-Pandemie. Weniger Menschen als in den Jahren vor der Pandemie besuchten das Festival, mit 75 Prozent war die Auslastung erstaunlich niedrig. Es sieht so aus, als müsse auch das Publikum den Weg zum Theater erst wieder finden. Das neue Kuratoren-Team mit Jens Hillje, Christine Wahl, Florian Fischer und C. Bernd Sucher wird sich davon nicht entmutigen lassen.

Als Festival-Restaurant muss sich das „Schmock“ an neuem Ort erst finden. Ein Abschnitt mit Bedienung, der andere ohne, umständliche Getränkeausgabe, der Zapfenstreich mitunter früh, vor allem aber zu hohe Preise für ein junges Publikum dämpften die Festivalfreude.

Ein Festival der Diversität

Habe ich eine Identität, und wenn ja, wie viele? Mit diesen Fragen sahen sich die Zuschauer immer wieder konfrontiert. Die Bandbreite war groß dieses Jahr, Radikal Jung war eine Feier der Vielfalt auch der Theatersprachen. Etwa bei „Jungfrau von Orleans”, die Ewelina Marciniak für das Nationaltheater Mannheim inszeniert: Eine von Schiller angestoßene, mitunter sehr unterhaltsame Diskussion darüber, als was sich die Heldin selbst fühlen könnte, wie sie gesehen heute wird, darüber auch, wie selbst die eigenartigste Frau des Mittelalters schließlich für weibliche Rollenzuschreibungen herhalten muss. Eine der besten Arbeiten des Festivals 2022, wohl auch die mit den besten Schauspielern.

Eine ganz andere Nummer: „Civilisation“. Regisseurin Jaz Wodcock-Stewart erzählt poetisch, still und konzentriert davon, wie das Leben einer jungen Frau aus den Fugen gerät. Erst unmerklich, dann deutlicher folgen die Entgleisungen, erst spät ahnt man eine tiefe Trauer, die sprachlos macht. Drei Tänzer verkörpern die Gedanken der Frau oder die Möglichkeiten, die das Leben zu bieten hätte, da lässt Woodcock-Stewart den Zuschauern die freie Wahl. Eindrucksvoll!

Kieran Joel mit „Identitti“ und Joana Tischkau mit „Karneval“ setzten sich mit Rassismus in der deutschen Gesellschaft auseinander. Bei "Karneval"  erschöpft sich der Gag schnell: Simba bewegt sich als weißer Löwe durch einen alptraumhaften Karneval, dessen Gäste mit wohlbekannten, rassistischen Sprüchen aus der Rolle fallen. Die Schauspieler tanzen, bewegen die Lippen zu eingespielten O-Tönen. Darunter die hilflose Antwort des AfD-Politikers Timo Chrupalla auf die Frage nach seinem Lieblingsgedicht. Immerhin kann man sich danach wieder gut erinnern, wie sich ein Kater anfühlt.

„Identitti“ ist vermutlich schon wegen der Qualität der Romanvorlage einfallsreicher, kurzweiliger, besser zum Stiften eines Diskurses geeignet: Darf eine weiße Professorin am Ende nicht entscheiden, welche Identität sie annimmt? Allerdings zeigte sich in dieser Produktion, dass der große Saal des Volkstheaters kein schwaches Sprechen verzeiht. Manche Passagen verstand man akustisch nicht.

Die Koordination der Termine ist noch schwieriger geworden

Durch Medien, Management und Vater aufgezwungene Rollenbilder sind das Thema bei Lena Braschs „It's Britney Bitch!“. Die Inszenierung vom Berliner Ensemble war schnell ausverkauft, zu schnell für den Rezensenten vom „Kulturvollzug“. Der sah bei "Radikal Jung" auch „Mowgli“ nicht, weil ihn Souror Darabis Solo-Performance schon bei „Spielart“ ganz und gar nicht überzeugt hatte.

Eine für manchen Außenstehenden überraschende Wahl traf die Masterclass: Caner Tekers „Karadeniz“ setzte sich intensiv oder vielmehr kräftezehrend mit Körperlichkeit und Rollenzuschreibungen auseinander. Elias Adam verhandelte mit „We are in the Army Now“ Queerness auf der Bühne. Cosmea Spelleken zeigte mit „werther.live“ ein digitale Inszenierung des Klassikers. Vom Volkstheater stand Bonn Parks buntes High School-Musical auf dem Programm, ein überdrehtes, manchmal richtig albernes, am Ende bitterböses Singspiel, das auch wegen seiner schönen Bilder auch beim zweiten Besuch Spaß macht.

Erstmals standen Late Night Produktionen auf dem Programm. „Radikal Jung“ wächst, man wird als Besucher seine Termine bei künftigen Auflagen noch sorgfältiger timen müssen.

 

Veröffentlicht am: 06.07.2022

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

Weitere Artikel von Michael Weiser:
Andere Artikel aus der Kategorie