Gillian Wearing in der Sammlung Brandhorst
Vom Lernen über sich und die Anderen
Gillian Wearing, Video Still from Sixty Minutes Silance, 1996 (c) Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley
"Ich versuche immer, etwas über Leute herauszufinden und dabei auch mehr über mich selbst zu erfahren." Ob Banker oder Obdachlose, Mittelstands-Mütter oder Alkoholikerinnen, körperlich oder psychisch Versehrte - die britische Künstlerin Gillian Wearing kommt dem Menschen mit ihrer Kamera so nah, dass das Zuschauen oft weh tut. Es ist schmerzhaft und schockierend, weil ihre Fotografien und Filme auch dem Betrachter den Schutz entziehen.
Das kann man jetzt in der unbedingt sehenswerten Schau erleben, die in Zusammenarbeit der Staatsgemäldesammlungen mit der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf und der Londoner Whitechapel Gallery entstanden ist. Wegen der Sanierung der Pinakothek der Moderne werden die Arbeiten in den teilweise intimeren Räumen der Sammlung Brandhorst präsentiert, in denen man ihnen sogar besser gerecht werden kann.
Wearing, geboren 1963 und Turner-Preisträgerin von 1997, ist fast obsessiv darin, die unsichtbaren Grenzen zwischen sich und den Anderen zu durchdringen. Etwa in der frühen Arbeit "Confess All On Video... Call Gillian", in der sie per Annonce bat, ihr - geschützt durch eine Maske - eine Art Lebensbeichte abzulegen. Erst die Maskierung ermöglicht hier eine verstörende Wahrhaftigkeit.
Später, in "10 - 16", experimentiert sie damit, die Ebenen mehrfach zu brechen: MAn beobachtet erwachsene Akteute, die mit Kinderstimmen - auf der Tonspur darüber gelegt - über Träume und Traumata der Kindheit berichten. Und gerade dadurch erreicht diese Vielstimmigkeit eine Intensität, in der aus individuellen Geschichten archetypische Versatzstücke umso deutlicher hervortreten.
Das Motiv von Maske und Pose zieht sich durch Wearings stringentes Gesamtwerk. Für eine Portrait-Serie mutierte sie 2003 dank professioneller Maskenbildner zu einigen Mitgleidern ihrer Familie: Gillian Wearing ist ihre Mutter, ihr Vater, Bruder, Onkel und auch noch ihre Oma. Die multiple Persönlichkeit wird zum Normalfall. Und diese Anverwandlungen sind so gnadenlos perfekt, da ist es natürlich Absicht, dass man nur um die Augen herum noch das Maskenhafte erkennt.
Auch an der Darstellung der Lebensalter arbeitet sich Wearing ab, in "Snapshot" (2005), einer bewegten Bilderwand aus sieben Videos, die Frauen aller Lebensalter sieben Minuten lang dabei zeigt, wie sie scheinbar auf irgendetwas warten: Aufs Erwachsenwerden, auf einen tollen Mann, auf Trost, auf den Tod. Nur das kleine Mädchen scheint noch ganz in ihrer Gegenwart zu sein.
Gillian Wearing, Self Portrait At 17 Years Old, 2003 (c) Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London
Gillian Wearings Ansatz wird als konzeptuell beschrieben, doch wird man damit ihrem Interesse für psychische und soziale Strukturen (und Deformationen), einer langen und ehrwürdigen Tradition der britischen Kunst, kaum gerecht. Ihr Blick ist schonungslos, aber niemals respektlos. Wer sich auf diesen menschen-Zoo einlässt, muss mit negativen Gefühlen rechnen. Aber selbst wenn man sich weit, weit weg von der Pein ihrer Protagonisten glaubt, kann man darin wahrhaftig einiges über sich und die Anderen erfahren.
Pinakothek der Moderne in der Sammlung Brandhorst, bis 7. Juli 2013, Di - So 10 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Katalog 29,80 Euro.