Ulrich Pohlmann, langjähriger Sammlungsleiter im Stadtmuseum, über Chancen der Fotokunst

"Vor dem Hinterfragen muss man sich ein bisschen verführen lassen"

von Christa Sigg

Ulrich Pohlmann. Archiv Stadtmuseum

Er gehört zu den wichtigsten Fotohistorikern des Landes, 134 Ausstellungen und 110 Kataloge gehen auf sein Konto – und dennoch hat Ulrich Pohlmann keinen Wikipedia-Eintrag. „Wozu denn?“, fragt der langjährige Leiter der Sammlung Fotografie des Münchner Stadtmuseums fast konsterniert, „es geht doch um die Kunst“. Im Gespräch erwähnt er nicht einmal die Festschrift, die Ende Januar 2023 im Schirmer/Mosel Verlag erscheint. Dabei demonstriert dieser Band ausgiebig, was dieser Kurator alles an Land gezogen und wie viele Fotoleute an den einschlägigen Museen er ausgebildet hat.

 

Ulrich Pohlmann wird lange nicht nur dem Stadtmuseum fehlen, das er nun nach über 30 Jahren in den Ruhestand verlässt. Schreiben will er, weiter forschen. Und eine große Retrospektive in der Pariser Fondation Henri Cartier-Bresson wird er betreuen. Eine Ehre sei das, sagt er. Das war bislang Franzosen und allenfalls noch Amerikanern vorbehalten. Leicht möglich, dass dann auch ein Wikipedia-Eintrag folgt.

Herr Pohlmann, es gibt Häuser, die besser ausgestattet sind. Was hat Sie vor 31 Jahren gereizt, ans Münchner Stadtmuseum zu gehen?

ULRICH POHLMANN: Das Haus war seit den 1960er Jahren als Ort der Fotografie bekannt. Mich hat vor allem die Symbiose unterschiedlichster Sammlungen wie Mode, Grafik, Gemälde, Puppentheater oder Volkskunde gereizt. Das hilft der Fotografie, nicht nur als Kunst wahrgenommen zu werden. Man kann sie in die Kulturgeschichte einbetten.

Haben Sie geahnt, wie sich das alles entwickeln würde? Die digitale Fotografie gab’s ja längst, auch wenn die Apparate damals noch höllisch teuer waren.

Meine erste Begegnung mit der Digitalität in der Fotografie fand tatsächlich Ende der 80er Jahre in New York statt. Damals habe ich den Entwurf für einen „Newsweek“-Titel gesehen, und da wurden Ayatollah Chomeini und Ivana Trump in einem Bild zusammengesetzt – mit sehr langsamen Rechnern. Mir dämmerte das erste Mal, was das für die Fotografie bedeuten würde. Die rasante Entwicklung hat mich trotzdem überrascht. Damit meine ich auch das gefährliche Ausmaß der Fake-Photography.

Uschi Obermaier, 1969. Foto: Guido Mangold, Courtesy Schirmer/Mosel

 

Kann man da überhaupt gegensteuern?

Durch Aufklärung! Schon in der Schule. Genauso spielen die Museen eine wichtige Rolle. Es geht nicht darum, nur Positionen zu feiern, Museen müssen den Besuchern eine Idee vermitteln, wie man kritisch analytisch mit Bildern umgeht. Abgesehen davon ist die Fotografie-Geschichte auch viel zu wenig in den Kunstwissenschaften verankert. Im Vergleich zu Frankreich und den USA ist Deutschland ein Entwicklungsland. Wir sollten in der Lage sein, Bilder lesen zu können, um die Fotos in den Sozialen Medien und in der Presse einordnen zu können.

Hat dieses „Bilderlesen“ auch beim Aufbau der Sammlung eine Rolle gespielt?

Natürlich war ich bemüht, Lücken im Sammlungsfundus zu schließen. Gerade im Bereich des Lokal-Regionalen in der Frühzeit der Fotografie. Mich hat aber auch immer die Wirklichkeit hinter den Bildern interessiert. Also Fotografie im Sinne eines archäologischen Projekts, bei dem man die verschiedenen Bedeutungsebenen erschließt. Einer Öffentlichkeit dann die verschiedenen Lesarten zugänglich zu machen, ist eine wunderbare Aufgabe.

Nur schöne Ausstellungen zu machen, war auch nie Ihre Sache. Wir erinnern uns etwa an das Projekt Adolphe Braun.

Das hat die Fotografie noch einmal im Zusammenspiel mit den anderen künstlerischen Medien und sämtlichen Wechselbeziehungen gezeigt. Ob es die Kunstreproduktion war oder die Fotografie als Bildvorlage zum Beispiel für die Historien- oder die Tiermalerei.

Märchenball "Jung-München". Foto: Joseph Albert, 1862, Courtesy Schirmer/Mosel

 

Gerade die Vertreter der Malerei haben diese „Beziehungen“ gerne verschwiegen.

Die Fotografie hat sich aber auf den Werkprozess ausgewirkt und umgekehrt. Die Rezeption war für mich immer ein zentrales Thema. Egal, ob sie hinter einem Passepartout steckt, wie wir es heute gewohnt sind, ob sie in Illustrierten und Zeitungen zu sehen ist oder einen Gebrauchskontext hat wie in der Mode oder Werbung.

Wie kam es eigentlich, dass der weltweit gefeierte Roger Ballen dem Stadtmuseum eine umfassende Schenkung gemacht hat?

Roger Ballen klopfte 1992 an und fragte, ob er seine Fotos zeigen könne. Natürlich habe ich mir seine Arbeiten angesehen und bei diesem Treffen spontan ein halbes Dutzend Originalfotografien erworben. Das waren noch diese ikonischen Motive.

Die Zwillinge mit den abstehenden Ohren?

Ja, die musste ich einfach kaufen! Und dann haben Roger und ich uns fast jedes Jahr gesehen, er kam auch regelmäßig in München vorbei. Es gab von Anfang an eine starke Bindung, und wir wollten irgendwann eine Ausstellung machen. Allerdings ist Ballen beim Galerie-Giganten Gagosian unter Vertrag, und mir war klar, dass das alles viel zu teuer und zu kompliziert würde. Roger hat das mit uns dann ganz ohne die Galerie gemacht, und ich durfte aus allen Werkphasen auswählen. Diese Ausstellung kam sehr gut an und ist gewandert. Dann ging es um den Verbleib dieser Bilder – und Roger hat uns kurzerhand alle geschenkt.

Künstler vergessen Ihre Entdecker nicht.

Sie spüren aber auch, wenn man sie versteht, und wir haben uns sehr bald blind verstanden.

Man muss das aber auch dem Publikum vermitteln können.

Ich versuche jedenfalls, die Werke – egal ob zeitgenössisch oder historisch – so zu präsentieren, dass sie etwas erzählen. Es geht nicht nur darum, einfache Botschaften zu formulieren. Fotografie ist eine sehr komplexe Angelegenheit mit Widersprüchen und Sachzwänge. Als Kuratoren müssen wir auswählen, verwerfen, das ist ein subjektiver Prozess, aber man muss sich auch um Objektivierung bemühen und immer darüber nachdenken, welche Inhalte Bilder transportieren und was sie beim Betrachter auslösen.

Strandläufer. Foto: Herbert List, Courtesy Schirmer/Mosel

 

In Ihrer Zeit sind 30 Archive und Nachlässe ans Stadtmuseum gekommen, Bedeutendes wurde angekauft. Was war besonders wichtig?

Der Nachlass von Herbert List zum Beispiel. Nach 1945 war List lange Zeit der international bekannteste deutsche Fotograf. Er hat hier im München einen guten Teil seines Lebens verbracht und das surrealistische Erbe seiner Zeit in die Arbeit einfließen lassen. Wichtig war natürlich auch die Erwerbung des Archivs des in München allgegenwärtigen Stefan Moses. Man vergisst dabei gerne, dass er in der ganzen Welt als Fotoreporter unterwegs war.

Stimmt es, dass Sie die ersten Farbfotografien entdeckt haben?

Ja, das hing mit einem Projekt zusammen, das dem deutsch-amerikanischen Fotografen Frank Eugene gewidmet war. Er hat übrigens in München gelebt und bekam 1913 in Leipzig die weltweit erste Professur für künstlerische Fotografie an einer Kunstakademie. Eugene hatte seine Freunde Alfred Stieglitz und Edward Steichen nach München eingeladen, zu dritt haben sie dann in Tutzing mit dem Autochromverfahren experimentiert. Als Abfallprodukt der Kinematografie hat das die ersten farbigen Diapositive beschert – aufgenommen 1907 in Tutzing. Das haben wir bei den Recherchen entdeckt.

Fotografen wie etwa Olaf Unverzart bedauern, dass es in München kein Haus für die Fotografie gibt. Wie sehen Sie das?

Ein solches Zentrum wie jetzt das Foto Arsenal in Wien fehlt tatsächlich. Aber ich würde es noch anders angehen. Wir haben in den Staatsgemäldesammlungen unter anderem mit der Stiftung Wilde und am Stadtmuseum zwei herausragende Fotografie-Sammlungen. Wenn man diese beiden Institutionen in einem städtisch-staatlichen Haus zusammenführen könnte, wäre das ein großer Gewinn. Man könnte etwa das Engagement in der zeitgenössischen Fotografie deutlich intensivieren. Und beide Sammlungen haben dasselbe Problem: Sie sind nur eine Abteilung in einem größeren Komplex. Deshalb sind die Ausstellungsmöglichkeiten immer auch begrenzt.

Zumal das Stadtmuseum 2024 schließt und saniert wird.

Das kommt dazu, die Sichtbarkeit wird stark eingeschränkt sein. Ich denke, es gibt in der Stadt ein großes Potenzial, sei es in den etablierten Institutionen, sei es unter den Fotografinnen und Fotografen, seien es die Verlage oder Galerien. Diese Kräfte könnte man bündeln. Es wäre ja schon ein Anfang zu überlegen, was gemeinsam machbar ist. Aber die Zeiten sind schwierig für neue Projekte und neue Häuser sowieso.

Gemeinsame Ausstellungen wären doch schon ein Fortschritt.

Wir arbeiten bereits sehr intensiv mit den Staatsgemäldesammlungen zusammen. Aber wir müssen die Fotografie so ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken, dass man eine 500-Meter-Schlange wie auf der "Paris Photo" in Kauf nimmt, um überhaupt eingelassen zu werden.

Solche Schlangen haben sich vor der Kunsthalle zum Ende der „JR Chronicles“-Ausstellung gebildet. Da ging es in der Hauptsache um Fotografie.

Und das zeigt doch, dass das Potenzial immens ist. Gerade auch mit diesem sozialen und politischen Kontext!

Können Sie noch entspannt durch ein Magazin blättern?

Doch! Bevor man anfängt, Bilder zu hinterfragen, muss man sich auch ein bisschen von ihnen verführen lassen. Ich liebe Bilder und habe eine gute Kondition, auch viele zu sehen. Ich bin doch ein Bilderfresser.

 

„Ulrich Pohlmann. Fotografie sammeln. Dem Leiter der Sammlung Fotografie im Münchner Stadtmuseum – Eine Festschrift“ (Schirmer/Mosel, 196 Seiten, 38 Euro)

 

Veröffentlicht am: 21.01.2023

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