Die wunderbare Welt der Wirklichkeit
Albert Renger-Patzsch, Kaffee Hag, 1925 (c) Albert Renger-Patzsch-Archiv/Stiftung Ann und Jürgen Will/ VG Bild-Kunst, Bonn 2011
Vom Beiwerk in den Mittelpunkt. Die Pinakothek der Moderne in München zeigt in der Ausstellung "Die Neue Wirklichkeit" Fotografien der Moderne aus der Sammlung Ann und Jürgen Wilde.
Die 1920er Jahre in Deutschland. Der erste Weltkrieg liegt gute zwei Jahre zurück. Armut und Verzweiflung in den Straßen der Städte sind immer noch sichtbar. Weite Teile der Bevölkerung leiden. Und doch beginnt die Gesellschaft, sich wieder zu beleben. Auch wenn es zynisch klingen mag: es tut sich etwas. Die Fotografie nimmt daran teil. Die Realität rückt in ihr Zentrum. Nicht mehr die starre Abbildung von Szenen, die als schön empfunden wurden, sondern eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit, dokumentiert durch die Darstellung von Details, neuen Perspektiven und Motiven, starke Schwarzweiß-Kontraste, das Aufgeben der Distanz des Bildermachers zum Subjekt oder Objekt des Abzubildenden prägen eine neue Zeit.
Einer der ersten, der die Sache, das Ding in den Mittelpunkt seines Schaffens stellt, ist Alfred Renger-Patzsch (1897-1966). Ihn interessiert das Detail, beispielsweise von Industrieanlagen wie dem Hochofenwerk Hessenwyk. Er entdeckt die Ästhetik einer Isolatorenkette oder die Kraft und das Feingefühl von Töpferhänden. Er ist es auch, der die Produktfotografie für die Werbung vorantreibt. Eine Schale mit Kaffee, umgeben von Bohnen und der Produktverpackung, die Farbkette eines Tuschekastens für die Pelikanwerke oder die Abbildung von Trinkgläsern. Die 1926 entstandene Aufnahme der Gläser ist mit ihren dargestellten filigranen Schattenbildungen von bezaubernder Zartheit.
Die in der Ausstellung gezeigten Bilder stammen aus der umfangreichen Sammlung der Stiftung Ann und Jürgen Wilde. Die Wildes, beide selbst professionell fotografierend, begannen in den 1960er Jahren Fotografie zu sammeln. 1968 übernahmen sie den fotografischen Nachlass des bekannten Münchner Kunst- und Fotohistorikers Franz Roh. Die Archive von Karl Blossfeldt und Alfred Ringer-Patzsch mit mehr als 4.000 Originalabzügen, über 10.000 Glasplatten, den Vorläufern des Dia, sowie umfassendes Archivmaterial kamen hinzu. Die Sammlung Wilde ist von unschätzbarem Wert, ein Fundus von nationaler Bedeutung, der aus jüngerer Zeit auch Werke von Bernd und Hilla Becher, Man Ray, Lee Friedlander und David Hockney beherbergt. Die Verlagerung dieses Schatzes nach München, die Zusammenarbeit mit den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und die dadurch geschaffene Möglichkeit, ein in der deutschen Museumslandschaft einmaliges Forschungsinstitut zur Geschichte der Fotografie zu schaffen und den umfassenden Fundus erstmals in Ausstellungen auch einem breiten Publikum zugänglich zu machen, ist ein Glücksfall für München.
Faszinierende Aufnahmen von Karl Blossfeldt (1865-1932) zeigt die Ausstellung. Pflanzendetails. Blätter, Stengel, Ranken, Gräser. Sie wirken wie aus Stahl gegossen in ihrer Klarheit. "Pflanzenurkunden" nannte der Fotograf die Bilder dieser zwischen 1900 und 1926 entstandenen Serie. So hat man die Gewächse noch nicht gesehen.
Berührend die Aufnahmen der jung verstorbenen Aenne Biermann (1898-1933). Neben der Betrachtung ihrer Tochter Helga, die das Motiv des Katalogs zur Ausstellung bildet, sind Bilder menschlicher Arme, Beine zu sehen, Teile weiblicher Körper, ein Halbakt. Daneben Teile eines Konzertflügels, Tasten, Saiten. Fotos, klar in der Betrachtung, der Perspektive, spektakulär im Detail.
Von Friedrich Seidensticker (1882-1966) werden Bilder mit ganz anderen Motiven, Straßenszenen, gezeigt, Reportagefotografien eher, die den schweren Alltag des Nachkriegsdeutschland zeigen. Die Pfützenspringerin, Müllarbeiter, Altpapiersammler. Ein junges Mädchen blickt leer in eine trübe Zukunft, ein Mädchen und ein Junge kauern sich in die Fensternische eines leerstehenden Ladens, Kinder in abgerissener Kleidung spielen um eine Wasserpumpe herum. Die Bilder zeigen die Nachwirkungen des Krieges.
Florence Henri entdeckte in seinen Aufnahmen den Spiegel als Stilmittel. Portraits, in denen er Spiegel einsetzt, um Duplizität zu erzeugen, oder Fotos, auf denen er schlicht Schaufensterspiegelungen ablichtet.
Konventionell, der bis dahin geltenden fotografischen Tradition verhaftet, muten dagegen die Portraitaufnahmen von August Sander (1876-1964) an. Die fein hergerichtete Bauernfamilie, aufgebrezelte Jungbauern, der Mauermeister. Und dann doch die von 1926 stammende Aufnahme von Frau L., ein Halbportrait, das eine junge Frau von heute zeigen könnte, oder das Fräulein Gr. auf einem Bild von 1924, selbstbewußt mit Zigarette in der Hand. Die Bildereihe zeigt, wie Sander sich an die Moderne herantastet.
Ein Spiel mit dem Licht zeigen die Aufnahmen von Alfred Ehrhardt (1901-1984) aus der Reihe "Das Watt", in der die schwarze Masse durch Wasser oder nur durch die Feuchtigkeit in sich die Sonne reflektiert.
Die Pinakothek der Moderne zeigt eine großartige, sehenswerte Ausstellung, die den Beginn der modernen Fotografie dokumentiert. Der weitaus überwiegende Teil der etwa 110 gezeigten Bilder hat an Aktualität nichts eingebüßt, ist weiterhin richtungweisend. Es ist erst der Beginn der Zusammenarbeit mit der Sammlung Wilde, ein Beginn, der sehr neugierig macht auf das, was da noch kommen wird in den nächsten Jahren.
Die Ausstellung ist noch bis zum 26. Juni 2011 in der Pinakothek der Moderne in München, Di. bis So. 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 10 Euro, sonntags einen Euro. Infos unter www.pinakothek.de