Von der Liebe im Alter über Atomkraft bis zur Molekularküche - Das 26. DOK.fest präsentiert vom 4.-11. Mai rund 90 Dokumentarfilme aus aller Welt
Ist Liebe im Alter erwünscht? Oder geht sie doch eher durch den Magen angesichts der Köstlichkeiten, die das Buffet „Magnifique“ aus ganzen Fischen, halben Hummern, Süßspeisen, Tortenbergen, Eisskulpturen und aus Früchten geschnitzten Figuren zu bieten hat?
Auf einem luxuriösen Kreuzfahrtschiff, das von der Biskaya, über die Südsee, den Golf von Bengalen und den Golf von Aden bis nach Genua schippert, lernen sich vier Singles um die 70 Jahre kennen: Gerlinde, Werner 1, Werner 2 und Renate. Die vier Rentner teilen sich nicht nur einen Tisch im Bordrestaurant, sondern auch ihre freie Zeit: beim Frühschoppen am Lido Deck, beim Bingospiel, an der Bar und auf dem Tanzboden. Auch bei diversen Landausflügen kommen sich die Vier näher. Die Reise auf hoher See währt fünf Monate.
Gerlinde, die vor laufender Kamera immer außer Rand und Band zu sein scheint, resümiert rückblickend am Ende der langen Seefahrt: “Das hier ist gar keine Wirklichkeit, das ist wie eine Traumblase, und wenn man da reinpiekst, dann ist alles wieder weg. Zuhause ist alles wieder weg.“
Mit besonderem Gespür für Stimmungslagen und seelischen Befindlichkeiten ihrer Protagonisten hat Regisseurin Frauke Ihnen in ihrem Dokumentarfilm „Für die Dauer einer Reise“ in ruhigen Bildern auf dem wankenden Schiff vier Menschen porträtiert, die nüchtern Bilanz ziehen, realistisch auf die verbleibenden Jahre blicken, sich aber die Hoffnung auf Nähe und Zuneigung bewahrt haben.
Andere Themen beim 26. Internationalen Dokumentarfilmfestival rühren massiver am Gemüt, decken schonungslos die Wunden der Gegenwart auf. 90 Filme aus 38 Ländern zeigt das Festival. Afrikanische Flüchtlinge setzen ihr Leben aufs Spiel und überqueren tagelang den aufgewühlten Atlantik (Adrift: People of a Lesser God). Kinder in den Slums von Kairo hantieren mit giftigen Chemikalien einer Gerberei und haben doch Freude dabei (Living Skin). Jugendliche werden von ihren tibetanischen Eltern über das Himalajagebirge geschickt in der Hoffnung, dass sie fern der Heimat eine bessere Zukunft erwartet (Good bye Tibet). Oder die Erinnerungen von Erwachsenen an ein dunkles Kapitel ihrer Vergangenheit in der Odenwaldschule, wo sie als Schüler missbraucht wurden (Und wir sind nicht die einzigen). Es sind abendfüllende Dokumentarfilme, die durch durch starke Bilder überzeugen und betroffen machen.
Der Inhalt sucht und bestimmt seine Form. Dieser Maxime ist der Dokumentarfilmer und Adolf-Grimme-Preisträger Klaus Wildenhahn bis heute treu geblieben. „Die besondere Qualität der Arbeiten von Klaus Wildenhahn besteht in seiner Geduld“, sagt Festivalleiter Daniel Sponsel. „Am Ende seiner jeweils langen Dreharbeiten hatte er stets das, was er wollte: lebendiges und wahrhaftiges Material vom Leben seiner Protagonisten. Ein Einblick mit Tiefenschärfe in den Alltag der deutschen Unter- und Mittelschicht.“ Das Münchner Dokumentarfilmfestival ehrt den 80-jährigen Filmemacher mit einer Retrospektive.
Zum ersten Mal findet in diesem Jahr die Medien- und Branchenplattform DOK.forum statt. Sie richtet sich an Autoren, Redakteure und Fachbesucher, die sich in Expertengesprächen zu aktuellen Themen wie beispielsweise die aktuelle 3-D-Welle im Kino austauschen können. Mit sieben Filmen setzt die Reihe DOK.guest ihren diesjährigen Länderschwerpunkt auf den Balkan.
Eröffnet wird das Festival, das vom 4. Bis 11. Mai stattfindet mit dem Film „Unter Kontrolle“, der unaufgeregt ausdrucksstark die Gefahren der Kernkraft demonstriert. Im kostenlosen Programmheft formuliert der Regisseur Volker Sattel es so: „UNTER KONTROLLE vermisst Bild für Bild den Raum und die Seele einer Technik, die keinen Fehler erlaubt. Die Erkenntnis ist einfach: Je mehr Kernkraftwerke es gibt und je länger sie laufen, umso näher rückt der Tag der Katastrophe.“
Wie auf dem Seziertisch nimmt der Filmemacher das Thema Mensch und Technik, das aufgrund der jüngsten Atomkatastrophe in Japan geradezu antizipatorisch wirkt, unter die Lupe. Eine präzise Bestandsaufnahme, die das Innenleben am Netz hängender Atomkraftwerke in Deutschland mit Kontrollraum, Reaktordruckgefäß, Brennstäben, Primär- und Sekundärkreislauf, Abklingbecken und Betonkuppel genauso zeigt wie Vernebelungsanlagen gegen Terrorismus, das kühle Design im Simulationszentrum der Kraftwerksschule in Essen, die sichersten Atomkraftwerke der Welt, Zwentendorf, das als Ersatzteillager für Isar I und Gundremmingen dient, sowie den heute als gigantisches Spaßkraftwerk eingerichtete Schnellen Brüter bei Kalkar am Niederrhein. Auch das Thema der Endlagerung wird angesprochen in diesem Film, der eindrückliche Bilder findet und gleich zu Beginn die unsichtbare, auch natürlich vorkommende Radioaktivität, als schwarz-weißes Feuerwerk in der Nebelkammer sichtbar macht.
Ähnliche Lichtblitze entladen sich bei Starkoch Ferran Adrià, wenn er Proteine von fluoreszierenden Fischen wie Eis am Stil isst. Aber da sind wir schon in einem anderen Film und einer neuen Geschichte, in der es um die Magie des Kochens geht beispielsweise einem Cocktail mit Öl, der sich oben wie Seide anfühlt und unten flüssig ist (El Bulli - Cooking in Progress).
Infos unter: www.dokfest.de
Angelika Irgens-Defregger