Tolstoi fürs Abendprogramm - Das Volkstheater startet mit Anna Karenina in die neue Spielzeit

von kulturvollzug

Wie das so ist mit der Liebe. Sie soll durchstarten wie eine Rakete, die uns in den siebten Himmel befördert. Die Erfüllung von allen Wünschen soll sie sein, Empfindung höchsten Glücks im Augenblick, Sinn stiftend in der Zukunft. Und dann das: Zwei Menschen drehen im Eis-Oval ihre Runden. Ein Video zeigt sie, in Bildern ebenso wackelig wie der Stand der beiden Schlittschuhläufer. Lewin (Stefan Rupp) will Kitty (Kristina Pauls) seine Liebe gestehen, sie wäre auch gar nicht abgeneigt, wäre da nicht Wronski (Robin Sondermann)... kurz: nicht nur auf dem Eis, auch emotional stolpert man.

Foto: Arno Declair

In solchen Szenen offenbart Frank Abts Inszenierung ihre Stärken: Schöne, sprechende Bilder gibt es da, Momente voller Poesie, in denen sich die Handlung von Leo Tolstois Ehe-Roman „Anna Karenina“ zu konzentrieren scheint. Das gelingt nicht immer; in der Fassung von Armin Petras, der tausend Seiten auf unter hundert zusammenfasste, gerät manches zur Collage. Epische Breite im Schnelldurchgang durchmessen – da muss schon mal die eine oder andere Detailzeichnung auf der Strecke bleiben, die dem dreifachen Ehe-Experiment Schärfe und Tiefe verleiht.

Warum zum Beispiel hasst Anna Karenina (Barbara Romaner) ihren Karenin (Friedrich Mücke) so? Das wird nicht ausformuliert, obschon Mücke in seinem unaufgeregten, souveränen Spiel der Figur des Beamten so manche Ansatzpunkte gibt: Er ist auf Karriere versessen und sieht seine Ehe nicht viel anders als eine Pflichtaufgabe in seinem Ministerium. Ob solche Lauheit einer Frau für eine solche Abneigung reicht? Die Ehe-Geschichte zwischen Anna und Karenin jedenfalls bleibt blass.

Foto: Arno Declair

Im Zentrum steht ohnehin Annas leidenschaftliche Affäre mit Wronski. Auch sie beginnt etwas holprig, ist Anna doch zunächst nicht gewillt, die Bahn der Konventionen zu verlassen. Für ihr eingeengtes, aber gesichertes Dasein hat Oliver Henf einen Salon mit Schreibtisch, Sofa und Klavier gebaut. Dann verlässt Anna Karenina Mann und Haus durch den Bühnenhinterausgang – und findet sich nach der Pause auf einem erweiterten Spielfeld wieder, auf dem sich sogar Schlittschuh laufen lässt. In Szenen von charmanter Innigkeit lebt sie ihre Leidenschaft mit Wronski aus – da haben Romaner und Sondermann ihre stärksten Momente.

Gut zu gefallen wissen auch Xenia Tiling als Dascha und Torsten Kindermann als ihr Mann Stefan. Tiling spielt die Dascha als verbitterte Ehepragmatikerin, in stiller Würde, aber voller unterdrückter Leidenschaft. Kitty dagegen ist ein quecksilbriges Teeniemädchen, die ihrem Zukünftigen schon zeigen wird, wer die Hosen anhat. Ihr Ratespiel im Dreieck mit Lewin und Dascha, dieser vergnügliche Austausch geheimer Liebesbotschaften, gehört ebenfalls zu den Höhepunkten des Abends.

Von den Schauspielern verlangt diese Szenenrevue einiges ab. Sie wechseln immer wieder die Perspektive, gehen aus der Handlung in den Bericht, sprechen Dialoge anderer Figuren, erläutern das Innenleben der Figuren. Ein größtenteils gelungener Zug dieser Inszenierung, die dadurch einiges an Facettenreichtum gewinnt. Immer wieder finden die Akteuere in ausgesprochen witzigen Szenen zueinander. Gut, wir können uns vielleicht nicht immer einen Reim darauf machen, warum man dieses Riesenkaliber der Literatur heute noch zu sich nehmen muss. Aber solcherart serviert, in kleinen Häppchen, liegt Tolstoi wenigstens nicht schwer im Magen.

Foto: Arno Declair

Anna, die sich von Wronski nicht mehr geliebt glaubt, stürzt sich schließlich vor den Zug. Im Volkstheater verabschiedet sie sich noch von ihren Männern und verlässt Leben und Bühne durch den Publikumsausgang. Auch da hätte Abt auf die Kraft seiner lebenden Bilder vertrauen können. Warum er Annas Freitod durch einen Filmclip, gedreht im Hauptbahnhof, illustriert, ist nicht nachzuvollziehen. Da liefert jedes Zuschauers Vorstellungskraft stärkere Bilder.

„Alle glücklichen Familien ähneln einander, während jede unglückliche Familie auf ihre eigene Weise unglücklich ist.“ Diesen Satz hat Tolstoi seiner Geschichte vorangestellt. Nach all den unglücklichen Verbindungen war es auch an diesem Abend Zeit, ein gelungenes Ehe-Modell vorzustellen. Ausgerechnet der grüblerische Atheist Lewin und Kitty finden letztlich glücklich zueinander, inklusive Nachwuchs. Dieses Happy End von Annas Sohn Florian Burgkart vortragen zu lassen (der genau genommen über das Hinscheiden seiner Mutter grundtraurig sein müsste), ist nicht unbedingt logisch, aber einfach schön. Liebe startet nicht einfach durch wie eine Rakete, so konnte man seine kindlich naiv vorgetragene Botschaft interpretieren, nein, sie muss jeden Tag aufs neue angeschoben werden, wie ein Leiterwagen in einem ausgefahrenen Weg.

MW

Veröffentlicht am: 03.10.2010

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