Fliegen mit gestutztem Flügel

von kulturvollzug

Foto: Leonardo Fiorini

Das Tanzprojekt not made for flying vom italienischen Ensemble déjà donné spielt mit Schwerkraft und Bodenhaftung zugleich. Im Rahmen des Dance-Festivals 2010 fand die Uraufführung in München statt. Überschattet wurde die mitreißende Vorstellung von der Verletzung einer Tänzerin.

Wie weit kannst du gehen und wie hoch kannst du kommen? Die Choreographen Simone Sandroni (I) und Lenka Flora (CZ) thematisieren die endlosen Versuche des Menschen die Schwerkraft zu überwinden. Mit der nackten Hand skizzieren die Tänzer von déjà donné Linien - schaffen sich einen Raum. Verblüffend mühelos nehmen sie diese Linien dann in ihre Choreographie auf. „Bewegung hört nie auf“, sagt Sandroni. Wie Vögel scheinen die Tänzer zu schweben. Die Bindung zur Erde, zu ihrem Ursprung und ihrem Zentrum überwinden sie aber dennoch nicht. Alle Teile des Körpers streben nach oben, werden aber gleichzeitig nach unten gezogen.

Welche Bedeutung hat dieser Bodenkontakt? Auch damit beschäftigen sich die beiden Choreographen in ihrem zweijährigen Tanzprojekt. Schüler aus Tanzausbildungsstätten in ganz Europa haben sich dafür dem italienischen Ensemble déjà donné angeschlossen.

Foto: Leonardo Fiorini

Die Zusammenarbeit mit den Profis soll Auszubildenden die Möglichkeit geben, Bühnenerfahrung zu sammeln. Gemeinsam suchen sie die Grenzen der Schwerkraft und die Bedeutung der Bodenhaftung. Losgelöst und unbeschwert füllen die Tänzer den Raum aus, der sich, abgegrenzt durch weiβes Klebeband, immer wieder in seinen Maßen ändert. Dann aber wirft sie die Realität buchstäblich zurück auf den Boden, an dem sie haften und mit dem sie verwurzelt sind. Mit unnatürlich scheinenden Bewegungen, bis nahe an die Verrenkung.

Und plötzlich wird in der Uraufführung der Bodenkontakt zu einer schmerzhaften Erfahrung. Die italienische Profitänzerin Martina La Ragione trifft nach einem Partnerteil unsanft auf dem Boden auf. Sie erhebt sich, hält sich die Schulter und verlässt die Tanzfläche. Fast unbemerkt. Draußen aber wartet der Notarzt. Der Nerv scheint heil, nichts gebrochen, die Schulter allerdings ausgekugelt. Tränen, Enttäuschung, Betroffenheit am Abend der Uraufführung.

„What would happen if i’ld sing on the moon, where gravity is much higher than on earth?“ fragt eine Tänzerin des Ensembles zu diesem Zeitpunkt auf der Bühne. Die anderen heben sie in die Höhe, doch bald wird sie zur Erde zurückgezogen. Sandroni beschreibt den Prozess als „verlorengehen und sich wiederfinden“. Die Botschaft der Vorstellung macht also durchaus Mut. Auch am Boden hat man Spielraum, es gilt ihn zu nutzen. Aufeinander bezogene Bewegungen, synchron, mit Körperkontakt oder isoliert, „not made for flying“ überzeugt durch Dynamik und Emotion. Mit einem Funken Selbstironie und italienischem Charme ist die Choreographie mitreißend und bietet intensiven körperlichen Einsatz. Sie endet mit dem gleichmäßigen Keuchen der Tänzer, die den Kampf gegen die Schwerkraft zwar nicht gewonnen, dafür aber zu sich selbst gefunden haben.

Ruth Hofmann

Veröffentlicht am: 24.10.2010

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