Ratmansky-Premiere am Staatsballett

Kleine Mischung mit großer Welle

von Isabel Winklbauer

Sava Milojevic und Yago Gonzaga in "Hamlet". Foto: Serghei Gherciu

Alexei Ratmansky hat für das Bayerische Staatsballett drei Choreografien kreiert, die jeweils Musik von Tschaikovsky mit einem Shakespeare-Stoff verbinden. Dramaturgisch ist das eher unspektakulär, vom ästhetischen Standpunkt her allerdings spannend. Zu verdanken ist das vor allem auch dem Bühnen- und Kostümdesigner Jean-Marc Puissant.

Avantgarde-Paar Antonio Casalinho und Yonah Acosta in "Der Sturm". Foto: Carlos Queza

"Hamlet" (mit einer Elegie vornean), "Der Sturm" und "Romeo und Julia" stehen auf dem Plan des gebürtigen Russen Ratmansky, der in der Vergangenheit aber auch schon Wahl-Ukrainer war und heute in New York als Artist in Residence am American Ballet Theatre künstlerisch beheimatet ist. Einerseits kann ein dreiteiliger Abend in der heutigen neoklassischen Ära nur abstrakt sein, andererseits hat man es bei Shakespeare nun mal mit Handlung zu tun. Die Stücke sind also inspiriert davon, zeigen bekannte Motive, bleiben insgesamt aber undurchschaubar für jene, die die jeweilige Geschichte nicht mehr so gut parat haben. "Romeo und Julia" wird zum Beispiel rückwärts erzählt, die Szene in der Gruft eröffnet Tschaikovskys bekannte Fantasie-Ouvertüre von 1880, und von da aus geht es zurück über die Giftszene und Weiteres bis an den strahlenden Anfang der ersten Begegnung auf dem Ball – die Liebenden (Julian McKay und Maria Baranova, beide bejubelt) enden bei Ratmansky also glücklich vereint. Ein schöner Zug. Allerdings geht es dazwischen durcheinander, die Liebesszene mit Nachtigall und Lärche folgt gleich nach der Gruft zum Gesangsduett von Elmira Karakhanova und Aleksey Kursanov. Obendrein fungiert den Abend hindurch Shale Wagman als begleitender Geist, Erzähler oder geheimnisvolle dritte Person. So genau darf man es also nicht nehmen mit den Storys.

Osiel Gouneo als Hamlet endet hin- und hergerissen. Foto: Nicholas McKay

Ein riesiges abstrakt-erzählerisches Potential hat natürlich Ratmanskys Raum- und Körpersprache. Zum Beispiel wandelt er Petipas Trick, gleichgroße Gruppen von Tänzern zeitlich versetzt das Gleiche tanzen zu lassen ab, indem er gleichgroße Gruppen zeitversetzt Ähnliches tun lässt. Für den Betrachter endet das zum Beispiel in zwei Riegen von Herren, von denen die hintere im Écarté verharrt, die vordere in Arabesken, was sich manchmal auch als Schattenriss vom Hintergrund absetzt. Die Duette bestehen aus vielen Pirouetten, die als Ausgangspunkt für allerlei pointierte Penchés, Arabesken und Hebungen dienen. Charmant ist auch die Auflösung der klassischen Paare: Mann-Frau-Paare werden fließend zu Frau-Frau- oder Mann-Mann-Duetten, dann wieder gemischten Gruppen. Das ist im Moment ziemlich schick, aber in diesem Fall trotzdem eine ästhetische Verbreiterung des Horizonts. Eine Art Zeitverschiebungseffekt entsteht aus den aufgelösten Verhältnissen, insbesondere in der "Elegie", in der der biegsame Shale Wagman von gestern, heute und morgen zu erzählen scheint. Da ist es manchmal schade, dass offenbar noch nicht genug Zeit war, um die Kompanie noch so richtig synchron werden zu lassen. Sensationell und gelungen sind die gegenläufigen Bewegungen einer Reihe von Wellenmädchen im "Sturm". Die Wilis aus "Giselle" würden staunen, was für ein quirliger, lebendiger Sprudeleffekt möglich ist, wenn man ein bisschen aufrechter, schneller und enger aufeinander zutanzt! Man sieht direkt die Schaumkronen vor sich und hört das Gluckern. Die Schlusspose aus "Hamlet" ist ebenfalls beispiellos. Sie ziert auch eines der Außenplakate am Operngebäude.

Die Meereswellen bei der Abschlussverneigung. Foto: Carlos Quezada

Ein Glücksfall für die Triple Bill ist der Bühnen- und Kostümdesigner Jean-Marc Puissant. Er wurde noch von Ex-Ballettdirektor Igor Zelensky verpflichtet und gibt einen Vorgeschmack, wie ein frischer französischer, vom neuen Kompaniechef Laurent Hilaire initiierter Wind im Staatsballett aussehen könnte. Inspiriert von chinesischen Tusche- und Aquarellbildern, aber wohl auch ein bisschen von Hokusais "Großer Welle von Kanagawa", zaubert er traumhafte, ruhige, gleichsam zarte Naturszenerien auf die Kulissen. Die Kostüme, enge Superhighwaist-Hosen für die Herren und Chiffonkleider für die Damen in Petrol, Schwarz und Weiß, sind eindeutig dem Ballett zuzuordnen. Aber sie haben deutlich ausgearbeitete Träger wie Kinderkleider und ebenfalls von Tusche, Natur und Meer inspirierte Muster. Im "Sturm" tragen die Damen die Schaumkrone der großen Welle als Tutu-Reminiszenz, in Bewegung bilden die Röcke ein Schauspiel für sich.

Klein, fein und eingängig – so ist der neue dreiteilige Abend am Staatsballett. Und München hat endlich drei eigene, originale Ratmanskys.

Veröffentlicht am: 28.12.2022

Über den Autor

Isabel Winklbauer

Redakteurin

Isabel Winklbauer ist seit 2011 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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