Von Sternen, Helden, Schlangen - und Tanztheater. Ein Pamphlet wider die Marke "Freiheit".
Anlässlich des Festivals DANCE 2010 hat der Kulturvollzug Jörg von Brincken von der Ludwig-Maximilians-Universität um einen Kommentar gebeten. Unsere Bitte: Beschreiben Sie uns aus ihrer Sicht, inwieweit Tanz subversiv an der Bruchstelle zwischen Körperautonomie und genormter Körperlichkeit agieren kann. Herausgekommen ist ein leidenschaftliches Pamphlet...
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.
(Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra)
Ein Freund und bekannter Theaterexperte betont in Gesprächen über das innovative Potenzial der Theaterkunst immer wieder, es wäre das aktuelle Tanztheater, und nicht das Text- oder das Musiktheater, in dem die sprichwörtliche Post abgehe, das heißt, Tanztheater sei diejenige Kunstform, in der die wirklich spannenden und ästhetisch zukunftsweisenden Dinge innerhalb der Theater- und Performancelandschaft passieren.
Auch wenn ich dem - cum grano salis – zustimme und die Entwicklung von Tanztheater mit steigendem Interesse verfolge, stellt sich die Frage, was denn auf den theatralen Tanzböden wirklich bewegt wird – oder anders bewegt wird.
Heldentänzertum oder Tänzerdämmerung?
Die Macher diese Blogs haben mich gebeten, anlässlich des Dance-Festivals ein paar subjektive Ansichten und zerstreute Gedanken zum gegenwärtigen Stand des Tanztheaters beizusteuern. Die Ausgangsfrage war, inwieweit sich Tanztheater als Einspruch gegen die Politisierung, Ökonomisierung und Sexualisierung von Körperbildern in post-kapitalistischen Zusammenhängen fassen lässt. Getanzter Widerstand im Medium des Körpers - desselben Mediums, dessen sich die Industrie und die Politik gnadenlos bediene. Allerdings habe ich etwas gegen Renitenz, wenn sie sich so nahtlos ins Klischee des Heroischen fügt. Denn heutige Helden tanzen gerne, bringen ihren Körper als grelles Marketing-Symbol ins Spiel und aus Heldentänzen lässt sich bestens Kapital schlagen. Zudem schwitzen bewegte Heldenkörper oftmals falsches Bewusstsein aus, in Form von trügerischen Freiheits- und Kreativitätsversprechen, in Form von Individualimusdiskursen und der Verführung zur Zügellosigkeit, die durch und durch gezügelt ist im Dienste herrschender Ordnungen.
Beginnen wir mit Nietzsches lebensphilosophisch inspiriertem Satz ‚Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können‘ aus dem Zarathustra, welchen ich diesem Essay als Motto vorangestellt habe. Nietzsche/Zarathustra entdeckt am Bild des Tanzenden eine utopische Dimension, die unmittelbar auf das Prinzip der Unordnung bezogen ist. Freiheit, Chaos, Intensität, von der Zivilisation Ungebändigtes, ja, Archaisches und Zerstörerisches sucht sich einen positiven Ausdruck im bewegten Leib, in Rhythmus und in der Musikalität des Körpers. In mannigfaltiger Weise ist ein solcher Gedanke in der Folge in Tanzkonzepte um die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert eingegangen, freilich weniger im klassischen Ballet, denn vor allem in Ausdruckstanz, freiem Tanz usw. Und ganz unabhängig von der Geschichte des künstlerischen Tanzes: Bis heute hat sich im allgemeinen Bewusstsein ein Bild erhalten vom Tanz als eines authentischen Ausdrucks der Freiheit, der Fülle und der überschäumenden Ekstatik im Sinne einer nahezu revolutionären Potenzials. Eine Sache für Heroen, für Ausnahmeindividuen. Für Sterne, für Stars.
Globalisierung des Tanzes oder tanzende Globalisierung?
Aber heutzutage tanzt ja jeder und alles. Die ganze Kultur scheint rhythmisiert. Allenthalben werden wir in den Medien doch mit Bildern zuckender Körper bombardiert, auf den einschlägigen Musikvideokanälen, im Internet, in der Werbung – Globalisierung des Tanzes oder tanzende Globalisierung?
Denn freilich drängt sich zwischen die hüpfenden Leiber stets der Kommerz, ökonomisches Interesse gepaart mit Rhythmus ergibt Erotik. Shake shake shake - your hips, your tits, your ass. Tanz macht unter Umständen geil, und das ist prinzipiell schon schön. Allerdings öden die bewegten Klischees und sexualisierten Posen fitnesstudiogeformter heroischer Bodies in zunehmendem Maße an – zumal sich die Rhythmen und Moves, in denen sie sich wiegen, doch alle ziemlich ähnlich sind. Die Unzahl von jungen und nicht mehr so jungen Menschen, die tanzen, bis die Fetzen fliegen, sind zumeist Verkäufer von Produkten, von Images, von Lifestyle, von Friede-Freude-Eierkuchen und nicht zuletzt Ausverkäufer ihrer selbst. Die Haut wird heute zu Markte getanzt. Germany’s next Top Dancer – oder eben topless Dancer…
Und nicht von ungefähr hat jede x-beliebige Fernsehserie oder jeder Actionstreifen eigene Kampfszene-Choreografen. Hauen und Sterben mit Stil. Hauptsache, man bewegt sich cool.
Tanz ist– auch wenn er sich allseits so feiern lässt - nicht mehr Ausdruck von Freiheit , Chaos und Kreativität, vielmehr eines allgemeinen Einverständnis, das sich in den Körper eingeschrieben hat und dass heroische Körper en masse produziert.To dance or not to dance – that is the question…
Körper als Widerspruch
Setzen wir jedoch ein anderes und ebenfalls bewegtes Bild daneben: Menschen verlassen sich in ihrem politischen Protest, gegen die ökonomische aber auch gegen die politische oder gesellschaftliche Ordnung wieder verstärkt auf ihre Körper. Auch hier Heldisches.
Man denke an Gegner von Stuttgart 21, die ihre widerspenstigen Leiber gegen die Obrigkeit ins Feld werfen. Und dabei letztlich auch physisch scheitern, wie uns die Bilder der mit Wasserwerfern Traktierten zeigen. Man denke an Protestkundgebungen jeder anderen Art, an Sitzblockaden, Demozüge, die einem eigenen Rhythmus folgen, konzertierte Aktionen, die nicht nur von kritischem Bewusstsein, sondern auch von körperlichem Bewusstsein zeugen. Bewegung als Contra.
Aber man denke auch – und dies ist NICHT frivol gemeint – an die Partyszene und die Subkulturen alternativer Erotik, die auf ihren Parties in ungebändigten Lustrhythmen gegen das Bürgerliche (oder was davon übrig geblieben ist) opponieren.
Man denke auch an die Tattooszene, die Gepiercten, die Bodymodder, die mittels wunderschöner Applikationen oder ästhetischer Deformationen die eigene Haut zum Tanzen bringen.
Doch egal ob Protest oder alternativer Lebensstil: Auch die hier in Anschlag gebrachten Formen von bewegter Körperlichkeit bilden irgendwann starre Muster aus, werden ikonisch, zu grellen Pop-Symbolen, werden in kulturelle Verfahrensweisen und regulierte Praktiken gegossen, erstarren in Routinen und oktroierten Rhythmen, sie werden in fataler Weise theatralisch – teilweise, aber nicht immer unverschuldet.
Tanztheater also? Was passiert denn hier? Was passiert denn hier anderes?
Freilich passiert hier das Meiste und Aktuellste! Weil es PASSIERT! Wir sind im Theater, welches ohnehin von seiner Liveness lebt. Speziell das Tanztheater: Seine Themen werden nicht einfach ausgesagt, gedeutet, in Form von Symbolen und Phrasen ins mediale Gedächtnis gezimmert, in dem es sich bequem einrichten lässt, sondern das, was da ist, ist da, wird in jedem Moment körperlich ausagiert! Der Eindruck eines bewegten Körpers – präsent und schon wieder passé! Es passiert jetzt. Passen wir also gut auf im Tanztheater: Das Livemoment, den jeder Augenblick des Tanztheaters zelebriert, geht unsere eigene Augenblicklichkeit an. Wir sollen uns, anders als in den medialen Angeboten und in der politischen Ikonografie, nicht an die Körper gewöhnen, sondern deren Passieren erleben. Aber zu welchen Bedingungen? Als wonnigen Ausbruch des Chaos? Als heroische Befreiung?
Die Liebhaber dieser Kunstform und sicher im Genre Versiertere als ich setzen in das Tanztheater oftmals das Vertrauen, sich ALS Kunstform gegen die Medialisierung, Ökonomisierung, kommerzielle Klischeebildung und auch gegen politische Körperregulate wehren zu können. Wehren? Das hat etwas allzu Heroisches. Ich würde sagen, dafür ist Tanztheater nicht laut genug.
Aber unter Umständen besteht die Möglichkeit, das Tanztheater nicht als Reflex auf Missstände zu sehen, nicht als ästhetisch-korporellen Protest, sondern als Raum der Erfahrung, als Schule einer Sensibilität, anhand derer wir uns Aufschluss zu geben vermögen über ein Skandalon: die intime Liaison von Körper und Ordnung.
Geordnete Körper
Tanz ist nie Freiheit, nie körperliche Ausschweifung, deren libidinöses Potenzial die starren Rhythmen gesellschaftlicher Routinen hinwegspülen könnte. Wer das glaubt, ist wieder beim freien Tanz und bei der Jugendbewegung um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert angelangt. Oder beim aktuellen Jugendwahn. Das ist sentimental, naiv und nicht zuletzt ein bisschen gefährlich, bedenkt man den Grad, zu dem sich damals wie heute Esoterik, Körperkult und mythosgeschwängerte Weltanschauung verbanden.
Tanz bedeutet Kontrolle, anders macht der Begriff keinen Sinn. Sich nur bewegen, das kann jeder Depp. Ein Stern dagegen braucht ein festes Firmament.
Tanz, zumal Tanztheater bedeutet Training, Körperbeherrschung, Regulierung, Arbeit, schweißtreibendes Üben und Sichverbiegen. Vor und nach jeder Aufführung, die im Ergebnis oftmals so leichtfüßig daherkommt.
Tanz grenzt an Gewalt, die man dem Körper antut. Zeit, Rhythmus, Takt, Muster, Form werden ihm eingeschrieben, in die Muskeln, Sehnen, Knochen, ins Mark. Und der Körper ist ein Werkzeug, ein wertvolles Instrument, das tonlos klingt. Die Angst des Tänzers vor dem Knöchelbruch ist sprichwörtlich. Ist sie nicht vergleichbar der Angst des Reiters, dessen Pferd stürzt? Aus – für Kunst, Karriere und das, was man am liebsten tut…
Warum tanzen Tänzer? Warum tanzen sie gerne? Warum tun sie sich das an? Zumal Tänzer, die im Bereich des Tanztheaters arbeiten. Tanztheater ist toll als Kunst, aber - besieht man sich die absoluten Zuschauerzahlen - doch begrenzt in Reichweite und öffentlicher Wirkung, nehmen wir das flottierende Musicalgeschäft einmal aus. Wollen alle Tanztheatertänzer zum Musical? Über ihre Kunst hinweg ins Geschäft hineintanzen? Neee…zuviele Helden dort!
War Michael Jackson frei?
Genug der süffisanten Fragen: Tanztheater zeigt uns in höchstem Maße trainierte Körper, die Schmerzen erlebt haben, um uns Freude zu bereiten, aber eben nicht nur Freude. Kein bloßes Entertainment. Tanztheater reflektiert wie keine andere Kunstform auf die Voraussetzungen von Körperlichkeit, von Bewegung, die uns das ubiquitäre Entertainment mit seine Freiheitsversprechen vergessen lassen will. Auch dort, wo jungen Entertainment-Eleven in einschlägigen TV-Shows Disziplin eingeprügelt wird: Sie sollen sich Freiheit ertanzen (und ersingen): Die Freiheit des Show-Stars, des tanzenden Sterns, die sich in Heldendstatus und auf dem Konto auszahlt. Vergessen wir den Mist ( - war Michael Jackson frei…?)
Immer ist der Körper eingespannt in Zwänge, Methoden, Routinen – das interessante Tanztheater von heute macht daraus kein Hehl. Tanzkünstler und Choreographen wie John Forsythe, Richard Siegal, Stefan Dreher, Monica Gomis und Michael Purucker und viel andere weisen - obwohl unterschiedlich in Schule und Ansatz – immer auch auf die Dimension einer ge- oder erzwungenen Interaktion des Körpers mit äußeren Regulierungen hin. Ohne dabei immer rundweg und vordergründig kritisch zu sein: Oft geht die größte Faszination von einer Unterwerfung aus, von Regeln und Konditionierungen.
Was wäre wenn?
Richard Siegal, der bei Dance 2010 mit einem Stück vertreten sein wird, hat eine eigene an der Spieltheorie orientierte Methode entwickelt, die er ‚If – Then‘ nennt. Wenn – Dann! Tue dies, dann folgt daraus jenes. Keine völlige Freiheit, sondern Konsequenz. Ich habe Richard einmal gefragt, welche Rolle denn das Cheating – das Schummeln – in seinem Konzept spiele. Und er antwortete, Schummeln wäre sehr wichtig, denn aus der Abweichung und der Renitenz ergäben sich – frei übersetzt - neue Wege, neue kreative Potenziale, neue Fluchtlinien.
Fluchtlinien, ja! Es sind nie die großen heroischen Gesten, die wirklich revolutionäres Potenzial bergen. Heroische Gesten und Posen sieht man zuhauf, sie sind inflationär in Unterhaltungsindustrie, nicht zuletzt als ‚signature moves‘, die ganz persönliche Unterschrift. Und sie sind gefährlich verführerisch, weil sie uns vorgaukeln, individuell zu sein. Dass sind sie spätestens dann nicht mehr, wenn sie als sozusagen korporelle Autogramme vervielfältigbar werden…
Bleiben wir also bei den kleinen tänzerischen Kritzeleien, den fiesen Schummeleien am Seitenrand - die eine abgegrenzte Seite voraussetzen. In der amourösen Reibung an Grenzen, an Gesetzen und an Routinen, in der gefährlichen Liebschaft mit Struktur entstehen kleine Bewegungsgwirbel, bewegte Territorien, die Mensch und Form zusammenbinden und dabei eben Fluchtlinien höchst diskreter Natur setzen – so diskret, so fluktuierend, so nomadisch, dass sie nicht monumentalisierbar, nicht ökonomisierbar und nicht politisierbar sind. Der tänzerisch bewegte Körper streift im besten Fall zwischen Gesetz und Ausschweifung herum, verdichtet sich, löst sich wieder und tastet sich von Halt zu Halt. Keine Freiheit ohne Methode. Tanztheater ist Erforschung und Kartografierung, dem beständigen Ausbau eines Diagramms vergleichbar, das kein Ziel kennt, sondern die andauernde Verschiebung von Grenzen zum Fluchtpunkt hat. Tanztheater ist gelebte und erlebte Lehre unserer Voraussetzungen, der rein kreatürlichen, der gesellschaftlichen, der politischen und ökonomischen. Tanztheater setzt den Menschen an die Grenze, bringt ihn als körperliches Wesen in Grenzsituationen, die als Live-Metapher für jede Form von Ein-, Aus-, Be- und Entgrenzung dienen. Aus diesem Grunde sind auch intermediale Experimente in diesem Genre gleichermaßen beliebt wie wichtig: Mediale Bild- und Tonroutinen sowie digitale Timecodes brechen in Körper ein, überformen sie. Die aus meiner Sicht spannendsten Experimente dieser Art rufen nicht zum Widerstand der Leiber gegen das Programm auf, sondern zelebrieren das Ineinander von Code und Körper mit fast sexuellem Touch. Spielerische Einübung in eine medienkulturailsierte Existenz. Keineswegs die Blaupause des Unterhaltungssektors, der das Individuum gerade dort feiert, wo er es doch gnadenlos dem Kommerz ausliefert.
Die Marke Freiheit ist am Ende
Machen wir Schluss mit der Marke ‚Freiheit‘: In der Anerkennung und Setzung von Grenzen wird Tanztheater transgressiv. Die Überschreitung bedarf der Limits, an denen entlang und über die hinaus sie sich schließlich bewegt. Was ist schöner und furchteinflößender als das Bild einer Schlange, die sich so gänzlich unheroisch über die Schwelle ihres Käfigs windet? In ihrer Streckung verschwistert sie sich der geometrischen Form, die sie umgibt und sie einsperrt, doch ihre Windungen konterkarieren diese Allianz, lösen sie kurzfristig auf. Eine mächtige Linie, die entlang einer Mittelachse seitwärts ausbricht – in ein und demselben Körper.
Genug der terraristischen Metaphorik (ja, ich mag Schlangen, sie haben nichts Heldenhaftes an sich). Aber es sei noch hinzugefügt, dass Nietzsche Adler und Schlange zu den Sinnbildern seines Zarathustra bestimmt. Übersicht und Bodennähe, das Erhabene und das Niedere, das geometrische Feld und die gewundene Linie. Der Adler trägt die Schlange in seinen Klauen und trägt sie in schwindelerregende Höhen.
Wer über Grenzen hinaus will, muss sich in Adlerklauen begeben. Per aspera ad astra…
Jörg von Brincken
Der Autor ist Akademischer Rat der Theaterwissenschaft München und Angehöriger des Interdisziplinären Forschungszentrums für Neuestes Musiktheater Sound and Movement (SaM).