Endlich unendlich
Die „Bólero-Variationen“ von Raimund Hoghe entwickeln ihren eigenen Time-Code. Hoghes Tanzritual, im Rahmen von DANCE 2010, transformiert den Raum, dehnt die Zeit, feiert die Miniatur.
Der Saal füllt sich, während ein kreideweißes Gesicht aus schwarzen Bühnenvorhängen in den Zuschauerraum starrt. Raimund Hoghe bewegt sich nicht, ist kaum erkennbar. Ein paar Nachzügler quetschen sich durch die Reihen, noch wird geredet und gelacht. Plötzlich herrscht Stille. Warum? Das Licht hat sich nicht verändert, niemand die Bühne betreten, kein Gong zum Schweigen geläutet. Es ist vielmehr so, als hätte eine unsichtbare Autorität den Raum in Besitz genommen. Lediglich leises Rascheln ist zu hören; jemand räuspert sich. Ungeduld liegt greifbar in der Luft, gleich muss das Stück beginnen - die Zeit dehnt sich. Hoghe lässt sein Publikum warten. Er macht klar: ich habe meine eigene Zeit, und die werde ich mir auch nehmen.
Dann geht es los: der Zeremonienmeister tritt aus schützender Dunkelheit auf die Bühne. Mit weiten, ausfallenden Schritten umkreist Hoghe, im Stile eines Diskuswerfers, die Tanzfläche; leise Musik begleitet seine Vermessung. Wieder am Ausgangspunkt angekommen schallt Applaus und eine scharrende Aufnahme der Olympischen Winterspiele von 1984 aus den Lautsprechern: „Expectingt something sensational.“ Zwei Moderatoren kündigen voller Vorfreude die Eistänzer Jayne Tornvill und Christopher Dean an. Das Tanzpaar hat die Olympischen Spiele mit einer furiosen Kür zu Maurice Ravels Bólero dominiert – ihre Darbietung ist ein Denkmal des Wintersports. Der treibende Ostinato-Rhythmus der Musik durchpullst den Saal - derweilen betreten Hoghes Tänzer die Bühne. Die strenge Ruhe ihrer Bewegungen, ihre Körperspannung und schwebende Präzision wird die eigentliche Sensation des Abends sein.
Hier wird nicht mit großen Gesten geprotzt, vielmehr entwickelt Hoghe mit seinem Ensemble aus der Reduktion, aus der Dominanz über Körper, Raum und Zeit einen Tanz der Miniaturen. Während Hoghe selbst, als Leib gewordener Uhrzeiger, immer wieder die Bühne umkreist, bieten die Tänzer ein Panpotikum verschiedenster Figurationen dar: wellende Arme, tanzende Finger, schwingende Kniescheiben – manches wirkt so leicht, scheint doch zugleich unmöglich. In jedem Moment ist die Aufführung selbst pures Staunen über simple Gesten und kleine Bewegungen, welche in Hoghes Universum unendlich an Kraft gewinnen. Die „Bólero-Variationen“ wirken wie ein David Lynch Film der in Zeitlupe - zu einem Mixtape von Pedro Almodóvar - auf eine poröse Leinwand geworfen wird. Hinter der Musik, hinter den Körperminiaturen, hinter den schwarzen Löchern im Kontinuum versteckt sich ein neuer, noch ungefühlter Kosmos, in dem vermeintlich objektive Größen wie Raum und Zeit wieder neu verhandelt werden müssen.