Erinnerung an die Vergänglichkeit - Memento Dementiae
Harter Stoff im Orff-Saal: In Helena Waldmanns Stück „Revolver besorgen“ behandelt Brit Rodemund ein Thema, das von tänzerischer Leichtigkeit so weit entfernt ist wie nur irgendwas.
Immer stärker krümmt sich die Gestalt; die Augen blicken leer. Der Kopf ist geneigt, aus dem Mundwinkel sickert ein Speichelfaden auf den Boden. Es ist nicht schön, es ist manchmal sogar abstoßend, was das Publikum in Helena Waldmans Tanzstück „Revolver besorgen“ zu sehen und zu hören bekommt. Das Thema ist ja dementsprechend hart: Es geht um Demenz, um den Verlust des eigenen Ich. Den Titel des Stücks darf man sich als Aufforderung wie auf einem Merkzettel vorstellen. „Nicht vergessen: Revolver besorgen“: damit die Demenz nicht den selbstbestimmten Abschluss des eigenen Lebens durchkreuzt. Nicht auch noch das! Konkret sind die beiden Worte dem ersten Dialog eines dementen Mannes nach zwei Monaten geistiger Abwesenheit entnommen.
Brit Rodemund durchtanzt das immer kleiner werdende Reich des verfallenden Bewusstseins in einer nicht nur tänzerisch, mit großer Spannung und Präzision, sondern auch schauspielerisch beeindruckenden Manier. Ihre konzentrierte Darstellung macht den Abend zu einem harten Memento Dementiae. Es überzeugt, wie hier der Tanz eingesetzt wird: Einmal erzählend, das andere Mal als Kontrastmittel. Wie Brit Rodemund anspruchvollste Figuren tanzt, dazu aber wie ein schwerkranker Mensch um Atem ringt, ja, röchelt: Dieser Widerspruch macht einem die Zumutung des körperlichen Verfalls deutlich. Am Ende hört man Kinderlachen in einer Endlosschleife, so lange, bis diesem Lachen jede Fröhlichkeit verloren gegangen ist. So ist es, wenn der Mensch wunderlich wird - oder nach anderer Lesart: kindisch. Oder stimmt es, dass alte Menschen manchmal in der Erinnerung in frühe Jahre ihrer Kindheit zurückkehren? Brit Rodemund verschwindet unter diesem grausamen Lachen in einem Haufen Plastiktüten, der an die Wölbungen eines Hirns erinnert, gleichzeitig aber auch an Erinnerungsmüll denken lässt. Dann ertönt ein Schuss. Der Abend ist eine Provokation. Allerdings eine nicht annähernd so große, wie die Möglichkeit, dass Körper und Geist einen Menschen so im Stich lassen können.
Jan Stöpel