Verschwunden mit der Schneekönigin
Großes Theater für die Kleinen: Das Bayerische Staatsschauspiel pflegt das Kindertheater mit viel Liebe und verblüffendem Erfolg. Unser aktueller Tipp (nicht nur für Kinder): „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen.
Im Rücken von Residenztheater und Opernhaus spielt sich auf der Bühne des Marstalls seit einigen Jahren etwas ab, was manch Theatergänger bislang verborgen geblieben sein dürfte. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil er keine Kinder hat. Das Bayerische Staatsschauspiel pflegt hier das Kinder-Buch-Theater. Sehr erfolgreich, sehr bemerkenswert. Die Idee, eine Schauspielerin, einen Schauspieler allein ein Kinderbuch lesen und spielen zu lassen ist pfiffig. Großes Theater für die Kleinen, Juliane Köhler, Anna Riedl, Felix Rech, um nur drei von vielen zu nennen, begeisterten schon mit Spiellaune und Verwandlungskunst. Alles ohne Anbiederung, dafür mit viel Professionalität.
Der Jahreszeit entsprechend zieht nun „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen Kinder und Erwachsene in ihren Bann. Die sehr komplexe und vielschichtige Erzählung des dänischen Märchenkönigs wird in großer Klarheit aufgeführt. Leider verschweigt das Programmheft, wer für die schöne Übersetzung zuständig war. Der Regisseurin Rabea Kiel gelingen jedenfalls eineinviertel spannende Stunden. Dabei scheint die Handlung so simpel, kreist sie doch nur um die eine Frage „Haben sie Kay gesehen?“ Das Mädchen Gerda ist auf der Suche nach ihrem Freund, der eines Tages mit der Schneekönigin verschwunden war.
Was sie dabei alles erlebt, wird in vielen kleinen Episoden von Katharina Hauter wunderbar erzählt und noch wunderbarer gespielt. Sie schlüpft ganz ungekünstelt und frech in all die Figuren, denen Gerda im Laufe der Geschichte begegnet. Es ist oft nur die kleine Geste, die sie benötigt, um ohne großen Kostümwechsel den Eindruck einer neuen Person zu geben, die auch wieder nicht weiß, wo Kay ist. Unterstützt wird sie dabei von einem großartigen Bühnenbild (Anneliese Neudecker), das ebenso alles kann, was von ihm gerade abverlangt wird. Ob Schloss oder Räuberhöhle, Kutsche oder eine Art Sauna, immer passt der Rahmen zum Bild. Selbst die Videoprojektionen (Meike Ebert und Jana Schatz) fügen sich in die realen Szenen als ob es nur so und nicht anders sein kann. Illusion und Wirklichkeit verschmelzen. Es ist ein Traum, bei dem alle hellwach sind. In dieser Aufführung gibt es einen Glücksfall, der unschätzbar und doch ganz bescheiden, der Geschichte den letzten Zauber gibt: Rosalie & Wanda. Das Duo begleitet Gerda musikalisch und ist gleichzeitig ein liebevoller Spielpartner. Wanda, der männliche Part, leiht Kay sein weiches Gesicht und Rosalie ist Gerdas Alter Ego. Unaufdringlich und doch immer präsent ergänzen sie eine glänzende Spielidee optisch und akustisch.
Auch hier weiß Rabea Kiel gut, mit allen Formen der Darstellungskunst umzugehen. Trotz aller Verwirrungen bleibt die ausweglos scheinende Suche - man erkennt es an den Reaktionen der jungen Zuschauer – ein Vergnügen mit Tempo und Witz. Nach dieser „Schneekönigin“ könnte dennoch so manchem Altem klar geworden sein, dass uns Hans Christian Andersen eine wunderbare Geschichte über das Erwachsenwerden, über die Pubertät erzählen wollte.
Als sich Gerda und Kay endlich wieder sehen, sind sie nicht mehr diejenigen, die sie einmal waren. Es lohnt sich, zum Kinder-Buch-Theater in den Marstall zu gehen, auch ohne Kinder!
Markus Weinkopf