Wir sind Gefangene
Heath Ledger war auch dabei: Beethovens „Fidelio“ erlebte am Dienstagabend seine mit Spannung erwartete Premiere an der Bayerischen Staatsoper, mit großem Beifall und dennoch nicht einhellig bejubelt. Spannung? Für die sorgte vor allem Regisseur Calixto Bieito. Und Beifall? Den bekam verdientermaßen nicht nur Star-Tenor Jonas Kaufmann.
Man kann auch mal mit dem Ende beginnen. Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass man den Schlussapplaus mit solcher Spannung erwartet. Riesenbeifall für die Sänger, das Orchester und den hervorragenden Chor, ja, davon konnte man ausgehen. Welche Meinung jedoch würde sich das Publikum über Dirigent Daniele Gatti gebildet haben, und wie erst würde das Urteil über Calixto Bieito lauten, jenes enfant terrible der Regiebranche? Lange und immer wieder durften erst die Sänger in Applaus und Bravo-Rufen baden, bevor sich nach langem Zögern der Vorhang nochmals für Bieito und sein Bühnen- und Ausstattungsteam öffnete: Heftige Buhs, die jedoch vom noch lauteren Beifall der überwiegend Begeisterten übertönt wurden.
Was war passiert? Bieito, der charismatische Glatzkopf aus Katalanien, ist wie die weiße Billardkugel auf die Münchner Opernszene gesprengt und hat Erwartungen und von lang her tradierte Bilder auseinandergetrieben.
Beim Verkauf von allgemeinen Verunsicherungen hat Bieito bekanntermaßen eine gewisse Routine. Mit Blutrünstigkeiten hielt er sich in München aber zurück, sieht man davon ab, dass sich ein Gefangener seiner Ketten entledigt – nur um sich mit ihrer Hilfe zu entleiben. Blutspuckend gelingt dem Armen im Selbstmord eine nur scheinbare Befreiung. Skandal? Ach wo!
Bieito präsentiert vielmehr einen manchmal irritierenden Reigen von Bildern und viel Aktion auf der Bühne. Er hat auf jeden Fall das richtige Händchen auch für seine Mitschaffenden. Das Bild, das Rebecca Ringst für diesen „Fidelio“ auf die Bühne des Nationaltheaters stellte, brennt sich unweigerlich ein. Ihr Kerker ist ein dreidimensionales, effektvoll leuchtendes Labyrinth (Licht: Reinhard Straub), in dem allerlei Personal mal hektisch, mal apathisch-langsam umherklettert, ohne doch einen Ausweg zu finden (Choreographie: Heidi Aemisegger).
Die Assoziationen sind vielfältig; mal denkt man bei der leuchtenden Konstruktion an Rubiks Würfel, mal an Computerplatinen. Der Schluss jedoch ist klar: Wir sind Gefangene, und zwar unserer selbst. Und hinter Mauern warten nur Mauern. Das hätte man übrigens auch kapiert, ohne dass die Protagonisten immer wieder mal Jorge Luis Borges zitieren, den großen Argentinier, der mit der unendlichen und allwissenden Bibliothek ja schon den Bauplan zu Ecos „Name der Rose“ geliefert hat.
Dieses Bühnenbild bietet Zuschauern wie Akteuren jedenfalls einen guten Grund für einen spannenden Abend. Doch auf diesem weiten Spielfeld entfernt sich Bieito eben auch weit von Beethovens ursprünglicher Oper. Die war, 1814 nach Napoleons erstem Abschied von der Weltgeschichte in Wien uraufgeführt, als Feier der Befreiung von einem tyrannischen Regime gedacht. Die Liebe bringt die Menschen letztlich zu einem gedeihlichen und geordneten Miteinander, sie triumphiert über die Kraft der Willkür und des Chaos. Im jubelnden Schlusschor vernimmt man schon so etwas wie eine Overtüre zur „Ode an die Freude“.
Bei Bieito aber sind alle Akteure in ihren Begierden gefangen und im vergeblichen Streben, im Leben ihren Platz möglichst weit oben zu finden. Jonas Kaufmanns Florestan ist ein Gemütskranker, der am Ende nicht recht an seine Heilung glauben mag. Ob Bieito deshalb Beethovens unglaublich schönes, schwebendes Streichquartett in a-moll eingefügt hat? Es wirkt ja ganz allgemein und garantiert ohne Nebenwirkungen wie Balsam auf seelische Wunden. Ein befremdendes und doch auch bezauberndes Bild, wie da die vier Musiker des Quartetts in Käfigen von der Decke herabschweben.
Da wir gerade bei den musikalischen Streicheleinheiten waren: Was die Sänger, allen voran Anja Kampe als Leonore, Wolfgang Koch als Don Pizarro, Franz-Josef Selig als Rocco und der vielbestaunte Jonas Kaufmann als Florestan leisten, macht den Abend zu einem Erlebnis. Im grandiosen Bild beweist vor allem Kaufmann die raumbeherrschende Qualität eines echten Opernstars, die allerdings die leisen, intimen Passagen deutlich zurücktreten lässt. Laura Tatulescu als Marzelline und Jussi Myllys als Jaquino hauchen und singen zwei Nebenfiguren richtiges Leben ein.
Eindrucksvoll bleibt Steven Humes Einsatz als Don Fernando. Von der Loge aus bahnt er selbstherrlich der Gerechtigkeit ihren Weg, geschminkt wie Heath Ledger als Joker in „Batman“. Auch dieser Erlöser ist ein zweifelhafter Geselle. Dirigent Daniele Gatti dagegen holte sich einige Missfallensbekundungen ab, und das durchaus unverdient. Vor allem in den leiseren Passagen leitete er das glänzende Orchester zu einem schönen schwebenden Ton von dunkler Samtigkeit.
Was bleibt? Staunen über Bieitos wundersamen Zauberkasten. „Das ist doch ein Zirkus“, rief irgendwann ein Zuschauer dazwischen. Ganz unrecht hatte er nicht; doch sei die Frage erlaubt, ob derlei nicht geradezu angeraten ist, um Staub davonzuwirbeln. Tyrannei ist nicht gut, eheliche Treue und Liebe dagegen wären es. Wissen wir. Doch sind wir auch bereit, für diese Einsicht zu streiten? Oder sind wir noch immer Gefangene?
Jan Stöpel